Der kalte Hauch der Angst
genommen und systematisch die schlechtesten Jobs gesucht, für die keinerlei Referenzen verlangt werden. Zwei Tage später stieà sie zu einer Büroreinigungskolonne aus Afrikanerinnen und Araberinnen, die mit harter Hand von einer sadistischen elsässischen Matrone geführt wird. Jeden Fünfzehnten des Monats bekommt sie den Lohn bar ausbezahlt. Schätzungsweise ist bei VitâNetâ die Quote der angemeldeten Arbeiterinnen dann erreicht, wenn die Hälfte einer Kolonne auf Lohnzettel arbeitet. Sophie gehört zu denen, die nicht angemeldet sind. Der Form halber hat sie so getan, als würde sie sich dagegen sträuben, hat aber zum Himmel gebetet, dass sie ihren Willen nicht bekommt.
Um zehn Uhr abends wartet Sophie vor dem Haus. Sie wird abgeholt, der Wagen bringt nacheinander jede Kolonne schichtweise von einer Versicherungsgesellschaft zu einemIT-Betrieb. Ihr »Tag« ist Punkt sechs Uhr morgens zu Ende. Das Essen um Mitternacht wird im Wagen eingenommen, auf dem Weg von einer Putzstelle zur anderen.
Der 1. Oktober rückt zügig näher. Sie hat nur noch zweieinhalb Monate, um ihr Projekt zu einem guten Ende zu bringen, und es ist absolut lebenswichtig, dass ihr das gelingt. Anfang des Monats hat sie begonnen, zu den ersten Treffen zu gehen. Sie hat sich bei einer Agentur eingeschrieben. Man wird sehen, ob sie sich später auch noch an andere Agenturen wenden muss, doch schon eine Agentur ist nicht billig. Im Büro des Chefs hat sie tausendvierhundert Euro mitgehen lassen, damit kann sie ihre erste Suche finanzieren.
Die Identität Marianne Leblanc wurde ihr für einen »gewissen Zeitraum« zugesichert, also nicht für lange. Sie hat sich daher vorgenommen, den Ersten zu nehmen. Sie mag zwar in einer ausweglosen Lage sein, ständig am ganzen Körper zittern, zusehends abmagern und nur drei Stunden am Tag schlafen, aber Sophie hat begriffen, dass der »Erste« ein sinnentleertes Wort ist. Sie hat eine Checkliste für den Mann aufgestellt: kinderlos, nachvollziehbarer Lebenslauf, mit allem anderen würde sie sich abfinden. Bei der Agentur hat sie so getan, als sei sie nicht sehr wählerisch. Sie hat so dummes Zeug gesagt wie: »ein einfacher Mann«, »ein ruhiges Leben«.
17
R ENÃ B AHOREL, VIERUNDVIERZIG J AHRE ALT , ein einfacher, ruhiger Mann.
Sie verabredeten sich in einer Brasserie. Sie hat ihn gleich erkannt; ein pausbäckiger Landwirt, der schrecklich nach Schweià stinkt. Er sieht so aus, wie er am Telefon klang. Eine Frohnatur.
»Ich bin aus Lembach«, sagt er verschwörerisch.
Sie braucht zwanzig Minuten, um zu begreifen, dass dies bedeutet: Er ist Winzer in einem abgelegenen Ort auf dem platten Land. Sophie hat sich eine Zigarette angezündet. Er hat den Finger auf die Packung gelegt.
»Das sage ich Ihnen gleich: Mit mir wird nicht geraucht.«
Er lächelt breit, sichtlich stolz, dass er seine Autorität auf eine Weise kundtun konnte, die ihm taktvoll erscheint. Er ist geschwätzig wie alle Leute, die allein leben. Sophie hat nichts vor, sie hört ihm zu und schaut ihn ruhig an. Mit ihren Gedanken ist sie woanders. Sie muss wirklich fliehen. Sie stellt sich die ersten körperlichen Zugeständnisse an diesen Mann vor und braucht gleich eine weitere Zigarette. Er redet von sich, von seinem landwirtschaftlichen Betrieb; am Ringfinger hat er nie einen Ehering getragen, oder es ist schon lange her. Vielleicht liegt es an der Hitze im Lokal, am lauten Stimmengewirr an den Tischen, wo die Gäste nun anfangen, warme Mahlzeiten zu bestellen. Jedenfalls überkommt sie ein leichter Schwindel, langsam steigt er vom Bauch auf.
»â¦Â wir bekommen zwar Subventionen, aber trotzdem â¦Â Und Sie?«
Die Frage trifft sie unerwartet.
»Was, ich?«
»Ja, wie denken Sie darüber? Interessiert Sie das?«
»Ehrlich gesagt, nicht so sehr â¦Â«
Sophie hat ihm diese Antwort gegeben, denn diese Antwort ist richtig, egal, wie die Frage lautet. René macht: »Aha.« Aber dieser Mann ist ein Stehaufmännchen, er fällt immer auf die FüÃe. Man fragt sich, wie solche Leute unter den Traktor geraten können. Sein Wortschatz ist begrenzt, aber bestimmte Wörter wiederholen sich dennoch mit beunruhigender Beharrlichkeit. Sophie versucht zu entschlüsseln, was sie hört.
»Ihre Mutter lebt bei Ihnen?«
René antwortet: »Ja«, als wolle er sie
Weitere Kostenlose Bücher