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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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beruhigen. Vierundachtzig ist sie, die Mama. Und noch »fit wie ein Turnschuh«. Das macht Angst. Sophie stellt sich vor, wie sie ausgestreckt unter dem Gewicht dieses Mannes liegt und die Alte durch den Flur geistert, das Schlurfen ihrer Pantoffeln, Küchengerüche … Kurz sieht sie wieder Vincents Mutter vor sich, das Gesicht ihr zugewandt, Rücken zur Treppe, Sophie legt ihr die Hände auf die Schultern und stößt so stark zu, dass die Alte zu fliegen scheint, dass ihre Füße nicht einmal die ersten Stufen berühren, als hätte sie eine Kugel mitten in die Brust bekommen …
    Â»Hatten Sie schon viele Verabredungen, René?«, fragt Sophie und beugt sich zu ihm vor.
    Â»Das ist die erste«, antwortet er, als wolle er einen Sieg verkünden.
    Â»Also, lassen Sie sich Zeit …«
    Die Geburtsurkunde hat sie in eine durchsichtige Plastikmappe gelegt. Sie hat Angst, sie zu verlegen wie so viele andere, fast genauso wichtige Dinge, hat Angst, sie zu verlieren.Jeden Abend, bevor sie aus dem Haus geht, nimmt sie die Mappe und sagt laut: »Ich öffne die Schranktür …«
    Dann schließt sie die Augen, visualisiert diese Bewegung, ihre Hand, den Schrank und wiederholt: »Ich habe die Schranktür geöffnet …«
    Â»Ich ziehe die Schublade rechts auf, ich habe die Schublade rechts aufgezogen …«
    So wiederholt sie jede Bewegung mehrmals und versucht, mit enormer Konzentration, die Worte, die Bewegungen zusammenzuschweißen. Wenn sie nach Hause kommt, rennt sie gleich zum Schrank, noch bevor sie sich ausgezogen hat, um sich zu vergewissern, dass die durchsichtige Plastikmappe noch immer dort liegt. Und bis sie sie wieder einschließt, klemmt sie sie mit einer Stahlklammer an der Kühlschranktür fest.
    Könnte sie ihn wohl töten, diesen unbekannten Gatten, den sie sucht? Nein. Wenn sie erst einmal in Sicherheit ist, wird sie wieder irgendeinen Doktor Brevet aufsuchen. Sie wird sich zwei, wenn es sein muss auch drei Hefte zulegen, wieder alles aufschreiben, und dieses Mal wird sie nichts davon abhalten. Es ist wie ein Kinderversprechen: Wenn sie das hinter sich hat, wird sie sich von ihrem Wahnsinn nie mehr unterkriegen lassen.
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    N ACH FÜNF WEITEREN V ERABREDUNGEN ist Sophie noch immer nicht weitergekommen. Theoretisch müsste man ihr Kandidaten vorstellen, die mit ihren Anforderungenübereinstimmen, aber die Leiterin der Agentur Odyssée hat grundsätzlich zu wenige Männer im Angebot und schickt ihr alles, was sie hat – wie diese Makler, die einem grundsätzlich Häuser zeigen, die in nichts dem entsprechen, was man sucht. Ganz zu Anfang gab es einen dämlichen Feldwebel, dann einen depressiven technischen Zeichner, von dem sie in einem sich dahinschleppenden dreistündigen Gespräch erfahren hat, dass er geschieden ist, zwei Kinder hat und die Alimente, die er schlecht ausgehandelt hat, drei Viertel seines Arbeitslosengelds auffressen.
    Völlig fertig und angeödet hat sie diesen Teesalon verlassen, nachdem ein ehemaliger Pfarrer sie zwei endlos lange Stunden nicht zu Wort kommen ließ; am Ringfinger hatte er noch den Abdruck eines Eherings, den er sicherlich erst eine Stunde vorher abgezogen hatte, er wollte bestimmt seine deprimierende Ehe etwas auflockern. Und dann war da noch dieser große Typ, direkt und selbstsicher, der ihr für sechstausend Euro eine Scheinehe angeboten hat.
    Die Zeit verging nun immer schneller. Auch wenn sie sich immer wieder sagte, dass sie keinen Mann suche, sondern einen Heiratskandidaten rekrutiere, führte kein Weg daran vorbei, dass sie heiraten, mit einem Mann schlafen und zusammenleben musste. In einigen Wochen, einigen Tagen hätte sie nicht einmal mehr die Qual der Wahl, dann müsste sie mit dem vorliebnehmen, was sich ihr bot.
    Die Zeit verstreicht, und damit verstreichen ihre Chancen, und sie kann sich zu nichts durchringen.
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    S OPHIE IST IM B US. S CHNELL MACHEN . Sie starrt ins Leere. Wie geht das 8211; schnell machen? Sie blickt auf die Uhr: gerade mal Zeit, um nach Hause zu gehen und zwei, drei Stunden zu schlafen. Sie ist erschöpft. Sie steckt die Hände wieder in ihre Taschen. Seltsam, dieses Zittern, das sie von Zeit zu Zeit überkommt. Sie sieht aus dem Fenster. Madagaskar. Sie dreht den Kopf und sieht ganz kurz das Plakat, das ihr aufgefallen ist. Ein Reisebüro. Sie ist sich nicht sicher. Aber sie

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