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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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Schachtel aus. Seit dem Morgen ist es bedeckt. Ein Wattehimmel. Und Wind. Der Kellner, der zu dieser Stunde nichts zu tun hat, schlendert neben der Tür an dem Tisch vorbei, wo Sophie einen Kaffee bestellt hat.
    Â»Westwind … Wird nicht regnen.«
    Sophie antwortet mit einem zweideutigen Lächeln. Nicht diskutieren, aber auch nicht auffallen. Nach einem letzten Blick in den Himmel, der seine Vorhersage zu bestätigen scheint, geht der Kellner hinter den Tresen zurück. Sophie schaut auf ihre Uhr. In ihren Monaten auf der Flucht hat sie sich Selbstdisziplin angewöhnt. Um 14 Uhr 55 aufstehen. Nicht vorher. Es sind genau fünf Minuten zu Fuß. Ohne zulesen, blättert sie in einer Mädchenzeitschrift. Horoskop für den Skorpion. Liegen Sie im Trend? Brits Playlist. Wie machen Sie einen Mann scharf? Sofort fünf Kilo abnehmen – es funktioniert!
    Endlich ist es 14 Uhr 55. Sophie legt das Geld auf den Tisch und steht auf.
    Westwind, ja, vielleicht, aber verflucht kalt. Sie schlägt den Kragen ihrer Jacke hoch und überquert den Boulevard. Um diese Zeit ist der Busbahnhof praktisch menschenleer. Sophie hat nur eine Sorge: dass ihr Vater nicht dieselbe Disziplin aufbringen konnte wie sie. Dass er noch da sein könnte, sie sehen wollte. Mit einiger Erleichterung stellt sie fest, dass er ihre Anweisungen genauestens befolgt hat. Kein bekanntes Gesicht unter den wenigen Gästen am Stehausschank. Sie muss nur noch das Lokal durchqueren und eine Treppe hinuntergehen, dann kann sie erleichtert den braunen Umschlag hinter der Wasserspülung hervorholen. Als sie wieder auf der Straße steht, fallen die ersten Regentropfen aufs Trottoir. Westwind.
    Der Taxifahrer ist geduldig.
    Â»Solange das Taxameter weiterläuft …«, hat er gesagt.
    Seit fast einer Viertelstunde steht er nun schon da, sein Fahrgast blickt zerstreut aus dem Fenster. Er hat gesagt: »Ich erwarte jemanden.« Gerade hat er mit dem Handrücken die beschlagene Scheibe abgewischt. Ein Mann in den Jahren, der sich aber gut gehalten hat. Eine junge Frau, die an der Ampel wartet, geht nun zügig über die Straße und schlägt den Kragen ihrer Jacke hoch, weil es angefangen hat zu regnen. Sie dreht schnell den Kopf zum Taxi, geht aber weiter und verschwindet aus seinem Blickfeld.
    Â»Tja, zu dumm … «, sagt der Fahrgast seufzend. »Wirkönnen ja hier nicht den ganzen Tag warten. Bringen Sie mich zum Hotel zurück.«
    Eigenartige Stimme.
    15
    M ARIANNE L EBLANC . Eine richtige Anstrengung, sich daran zu gewöhnen. Sophie fand diesen Vornamen schon immer grässlich. Sicherlich hat sie wegen einer Schulkameradin so schlechte Erinnerungen daran. Aber Sophie hat diesen Namen nicht selbst gewählt, man hat ihn ihr gegeben: Marianne Leblanc, zusammen mit einem Geburtsdatum, das mehr als anderthalb Jahre von ihrem eigenen abweicht. Aber das ist ja auch egal. Sophie ist alterslos. Man könnte sie genauso gut auf dreißig schätzen wie auf achtunddreißig. Die Geburtsurkunde ist auf den 23. Oktober ausgestellt. »Sie ist nur drei Monate gültig. Somit haben Sie Zeit, sich umzusehen«, hat der Zwischenhändler gesagt.
    Sie sieht ihn wieder vor sich, wie er in jener Nacht die Geburtsurkunde vor sie hingelegt und dann bedächtig das Geld gezählt hat. Doch er hatte nicht die selbstzufriedene Miene eines Händlers, der ein gutes Geschäft gemacht hat. Er betrachtet das nüchtern. Er ist ein kühler Mann. Sophie hat bestimmt kein Wort gesagt. Sie erinnert sich nicht mehr. Dann sieht sie nur noch, wie sie nach Hause gegangen ist, sieht die offenen Schränke, den offenen Koffer, in den sie alles wahllos hineinstopft, sieht sich eine widerspenstige Strähne zurückstreichen, sieht, wie ihr schlecht wird und sie sich an der Küchentür festhält. In aller Eileduscht sie sich kalt, eiskalt. Während sie sich wieder anzieht, kaputt und benommen vor Müdigkeit, geht sie schnell durch die Wohnung und vergewissert sich, dass sie auch nichts Wichtiges vergessen hat, sie entdeckt jedenfalls nichts mehr. Schon ist sie auf der Treppe. Es ist eine laue und klare Nacht.
    16
    S EIT FÜNFZEHN M ONATEN weiß Sophie, wie man Wohnungen aufspürt, die illegal vermietet werden, zweifelhafte Untermietverhältnisse, Schwarzarbeit, sie kennt also alle faulen Tricks, um in einer neuen Stadt unterzutauchen. Hier hat sie die Stellenangebote unter die Lupe

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