Der kalte Hauch der Angst
Kloschüssel gebeugt und sich übergeben. Dessen ist sie sich sicher. Sie hat alles erbrochen. Ihr Bauch schmerzte so, die Ãbelkeit kam von so weit unten, dass sie auf die Knie gehen und sich mit beiden Händen an der weià glasierten Schüssel festhalten musste. In der Hand hielt sie die zerknitterten Geldscheine. Speichelfäden hingen ihr von den Lippen, sie hat sie mit dem Handrücken weggewischt. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, aufzustehen und die Wasserspülung zu betätigen, es stank unerträglich nach Erbrochenem. Sie lehnte ihre Stirn an das kühle Porzellan, um wieder zu sich zu kommen. Sie sah sich aufstehen, aber ob sie wirklich aufgestanden ist, weià sie nicht mehr, nein, zuerst hat sie sich hingelegt, in der Garderobe, auf der Holzbank, wo man die Schuhe auszieht. Sie hat sich die Hand auf die Stirn gelegt, als wolle sie verhindern, dass ihre Gedanken sie überrennen. Sie hält sich den Kopf mit einer Hand, die andere liegt an ihrem Nacken. Sie zieht sich am Spind hoch und richtet sich auf. Diese einfache Bewegung verlangt ihr unvorstellbare Kraft ab. Ihr dreht sich der Kopf, sie muss eine Weile die Augen schlieÃen, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und dann geht es vorüber. Ganz allmählich kommt sie wieder zu sich.
Sophie öffnet den Spind, nimmt ihre Jacke, zieht sie aber nicht an, legt sie sich nur über die Schulter, bevor sie hinausgeht. Sie kramt in ihrer Tasche; gar nicht so einfach, mit einer Hand. Also stellt sie die Tasche auf den Boden und sucht weiter. Ein zerknüllter Zettel. Was ist das? Ein Kassenzettel vom Supermarkt, ein alter Kassenzettel. Sie wühlt weiter und findet einen Kugelschreiber. Sie schmiert auf dem Papier herum, bis der Kuli endlich schreibt, sie notiert ein paar Worte und schiebt den Zettel mit aller Kraft zwischen Tür und Pfosten des Spinds. Und dann? Sie geht nach links, nein,nach rechts, um diese Zeit verlässt man das Lokal durch die Hintertür. Wie in der Bank. Im Korridor brennt noch Licht. Der Chef wird abschlieÃen. Sophie läuft durch den Korridor, geht an der Bürotür vorbei, legt die Hand auf die Klinke und drückt. Ein kühler Luftzug, Nachtluft, streicht ihr kurz über das Gesicht, aber sie geht nicht weiter. Nein, sie dreht sich wieder um und blickt den Korridor hinunter. Sie will nicht, dass es so endet. Also geht sie zurück, ihre Jacke hängt ihr immer noch über der Schulter. Sie steht vor der Bürotür. Sie ist ganz ruhig. Sie nimmt die Jacke in die andere Hand und öffnet ganz sacht die Tür.
Am nächsten Morgen findet Jeanne an der Tür ihres Spinds eine kurze Nachricht. »Wir sehen uns in einer anderen Welt. Ich umarme Dich.« Das Briefchen ist nicht unterschrieben. Jeanne steckt es in die Tasche. Das anwesende Personal wurde in den Saal gerufen, die Eisengitter sind noch heruntergelassen. Die Kripo war am Ende des Korridors bereits bei der Arbeit. Sie hat von allen Beschäftigten die Personalien aufgenommen und auch gleich die ersten Befragungen durchgeführt.
13
E S HERRSCHT EINE G LUTHITZE . Dreiundzwanzig Uhr. Sophie fällt erschöpft aufs Bett, findet aber keinen Schlaf. In der Nähe hört sie Tanzmusik. Elektrische Musik. Elektrische Nacht. Unweigerlich erinnert sie sich an die Titel bestimmter Lieder. Aus den Siebzigern. Sie hat noch nie gerngetanzt. Sie kam sich so linkisch vor. Sie tanzte nur hier und da ein bisschen zu Rockmusik, aber immer mit denselben Schritten.
Ein Knall lässt sie zusammenzucken: die ersten Raketen des Feuerwerks. Sie steht auf.
Sie denkt an die Papiere, die sie gleich kaufen wird. Das ist die Lösung. Es ist unausweichlich.
Sophie hat das Fenster weit geöffnet, hat sich eine Zigarette angezündet und betrachtet den Funkenregen am Himmel. Sie raucht in aller Ruhe. Sie weint nicht.
Mein Gott, welchen Weg hat sie gerade eingeschlagen â¦
14
D IE W OHNUNG IST NOCH IMMER genauso unpersönlich. Der Zwischenhändler sieht sie hereinkommen. Beide bleiben stehen. Sophie holt einen dicken Umschlag aus ihrer Tasche, zieht ein Bündel Geldscheine heraus und will sie abzählen.
»Ist nicht nötig â¦Â«
Sie hebt den Blick. Und begreift auf der Stelle, dass etwas schiefgelaufen ist.
»Sie müssen verstehen, dass unsere Arbeit den Marktgesetzen unterliegt, Mademoiselle â¦Â«
Der Mann spricht ruhig, ohne sich zu bewegen.
»Das Gesetz von Angebot und Nachfrage
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