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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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neuen Intimität etwas weniger Gespieltes, weniger Künstliches zu verleihen. Auf dem Gasherd seiner Zweizimmerwohnung kocht sie etwas. Ganz allmählich wird er lockerer. Im Bett wird er nur aktiv, wenn sie den ersten Schritt macht. Und sie macht ihn immer. Jedes Mal hat sie Angst. Sie tut so, als ob. Manchmal, in kurzen Augenblicken, spürt sie, dass sie sogar glücklich sein könnte. Dann muss sie weinen. Er sieht es nicht, denn sie weint immer am Ende, wenn er einschläft und sie in nächtlichem Halbdunkel ins Zimmer starrt. Zum Glück schnarcht er nicht.
    Sophie liegt stundenlang so da und lässt die Bilder ihres Lebens vorüberziehen. Die Tränen laufen wie immer von allein, ohne sie, außerhalb von ihr. Sie gleitet in den Schlaf, vor dem sie sich fürchtet. Manchmal findet sie seine Hand und hält sich fest.
    23
    E S IST EINE SEHR TROCKENE K ÄLTE . Sie stehen an einer Eisenbalustrade, das Feuerwerk hat gerade begonnen. Kinder rennen über den Platz, Eltern schauen mit halb offenem Mund in den Himmel. Kriegslärm. Vor den Explosionen ist manchmal unheimliches Pfeifen zu hören. Der Himmel ist orangerot. Sie lehnt sich an ihn. Zum ersten Mal hat sie das Bedürfnis, das wirkliche Bedürfnis, sich an ihn zu schmiegen. Er hat seinen Arm um sie gelegt. Es könnte auch ein anderer Mann sein. Er ist es. Es könnte schlimmer sein. Sielegt ihm die Hand auf die Wange und zwingt ihn, sie anzusehen. Er küsst sie. Der Himmel ist blau und grün. Er sagt etwas, das sie nicht versteht, weil im selben Augenblick eine Rakete losgeht. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hat er etwas Nettes gesagt. Sie nickt einvernehmlich.
    Die Eltern fangen die Kinderschar wieder ein, von Grüppchen zu Grüppchen werden die üblichen Witze ausgetauscht. Man geht nach Hause. Paare Arm in Arm. Die beiden haben Mühe, einen Schritt zu finden, der für beide annehmbar ist. Seine Schritte sind länger, er tänzelt ein wenig, sie lächelt, schubst ihn, lacht, lächelt. Sie bleiben stehen. Es ist keine Liebe, aber es ist etwas, das guttut, etwas, das sich anfühlt wie eine unendliche Müdigkeit. Zum ersten Mal küsst er sie mit einer gewissen Autorität. In wenigen Sekunden beginnt das neue Jahr, man hört bereits das Hupen derer, die es nicht erwarten können und sicher sein wollen, dass sie die Ersten sind. Auf einen Schlag explodiert alles, Schreie, Sirenen, Lachen, Lichter. Kurz schwebt eine Welle zwischenmenschlichen Glücks über der Welt, der Zeitpunkt ist vorgegeben, die Freude jedoch echt. Sophie sagt: »Heiraten wir?« Es ist eine Frage. »Ich würde gern …«, antwortet er, wie um sich zu entschuldigen. Sie drückt seinen Arm.
    So.
    Geschafft.
    In ein paar Wochen wird Sophie verheiratet sein.
    Adieu Sophie, die Irre.
    Ein neues Leben.
    Einige Sekunden lang kann sie befreit aufatmen.
    Lächelnd sieht er die Leute an.

FRANTZ

3. Mai 2000
    Gerade eben habe ich sie zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Sie heißt Sophie. Sie ging aus dem Haus. Ich habe sie nur kurz vorbeihuschen sehen. Offensichtlich hatte sie es eilig. Sie stieg in einen Wagen und ist gleich losgebraust, so dass ich Mühe hatte, ihr auf dem Motorrad zu folgen. Zum Glück fand sie im Marais nur schwer einen Parkplatz, das hat mir die Sache erleichtert. Ich bin ihr mit Abstand gefolgt. Erst dachte ich, sie würde shoppen gehen, dann hätte ich ihr nicht hinterherfahren können; zu riskant. Aber zum Glück hatte sie eine Verabredung. In der Rue des Rosiers betrat sie einen Teesalon und ging gleich auf eine andere Frau in ihrem Alter zu, sie schaute auf ihre Armbanduhr zum Zeichen, dass sie in Eile war. Aber ich wusste, dass sie zu spät losgegangen war. In flagranti beim Lügen ertappt.
    Ich wartete etwa zehn Minuten, dann ging auch ich in den Teesalon und setzte mich in den hinteren Saal, wo ich sie gut im Blick hatte. Sophie trug ein gemustertes Kleid, flache Schuhe und eine hellgraue Jacke. Ich sah sie im Profil. Sie ist eine ansehnliche Frau, eine Frau, die Männern gefallen dürfte. Ihre Freundin hingegen fand ich zu vulgär. Zu stark geschminkt, eingebildet, zu sehr Weib. Sophie zumindest gibt sich natürlich. Die beiden haben mit jungmädchenhaftem Genuss Kuchen gegessen. An ihrer Mimik und ihremLachen merkte ich, dass sie Scherze machten, weil sie ihre Diät aussetzten. Frauen machen ständig Schlankheitskuren und werden ihnen

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