Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
Vom Netzwerk:
von früher her kennt. Der unpersönliche Geruch eines erregten Mannes. Ihr gelingt es, die Tränen zurückzudrängen. Er liegt leicht auf ihr, er scheint zu warten, sie lächelt ihn an. Sie sagt: »Komm …« Er sieht aus wie ein unentschlossener kleiner Junge. Sie drückt ihn an sich. Er macht sich nichts vor.
    Sie liegen ruhig da, sie schaut auf die Uhr. Beide wissen, dass sie sich nicht erklären müssen. Vielleicht eines Tages … Sie sind beide Verunglückte des Lebens, und zum ersten Mal fragt sie sich, worin wohl sein Unglück bestand.
    Â»Und deine Geschichte? Deine wahre Geschichte, wie lautet die?«, fragt sie, während sie mit seinen Brusthärchen spielt.
    Â»Die ist ziemlich banal …«
    Und Sophie fragt sich, ob denn nicht genau das der Fall ist.
    Arbeitet man nachts, dann ist alles zeitlich versetzt. Wenn andere einschlafen, steht Sophie auf und geht zum Bus.
    Sie sind immer zusammen: Véronique und der Chef des Fast-Food-Lokals. Sie hat beide auf die gleiche Weise getötet. Sie weiß nicht mehr, wie. Beide liegen sie auf der Edelstahlbahre imLeichenschauhaus. Wie Eheleute. Bedeckt mit einem weißen Tuch. Sophie geht zu der Bahre, und obwohl beide tot sind, haben sie die Augen geöffnet und verfolgen genüsslich ihre Schritte. Sie bewegen nur die Augen. Als sie hinten an dem Tisch vorbeigeht, beginnt langsam aus ihrem Hinterkopf Blut zu rinnen. Sie lächeln.
    Â»Ha, ja!«
    Sophie dreht sich unvermittelt um.
    Â»Das ist gewissermaßen Ihr Markenzeichen: ein paar gut platzierte Schläge auf den Hinterkopf.«
    Der Filialleiter der Bank trägt ein hellgelbes Hemd und eine grüne Krawatte. Seine Hose zwängt seinen Bauch ein, sein Hosenstall steht offen. Er schreitet einher wie ein Pathologieprofessor, bedächtig, selbstsicher, exakt, chirurgisch. Und er lächelt. Ein bisschen ironisch.
    Â»Mal sehen.«
    Er steht hinter dem Tisch und besieht sich den Hinterkopf der Toten. Das Blut läuft auf den Boden, es tropft auf den angestrichenen Betonboden und spritzt auf den Saum seiner Hose.
    Â»Diese da, mal sehen (er beugt sich über das Schildchen) … Véronique. Ja, Véronique. Fünf Messerstiche in den Bauch. In den Bauch, Sophie, also wirklich! Gut, weiter. Dieser da (er liest den Namen) … David. Gut, bei ihm mussten Sie nur den Arm heben, Sophie. Ein Baseballschläger, den David aus rein dekorativen Gründen in seinem Büro stehen hatte, und nun hat man ihm mit dem Emblem der Red Stockings den Schädel eingeschlagen. Es gibt wirklich blöde Schicksale, was?«
    Er entfernt sich von der Bahre und geht zu Sophie. Sie steht mit dem Rücken zur Wand. Lächelnd kommt er auf sie zu:
    Â»Und da wäre noch ich. Aber ich hatte Glück: Kein Baseballschläger, kein Messer in Reichweite, ich bin noch mal davongekommen, ich beschwere mich nicht. Hätten Sie gekonnt,dann hätten Sie mir den Kopf an der Wand zerschmettert, und ich wäre jetzt tot wie die anderen, Schädelbruch. Auch ich würde aus dem Hinterkopf bluten.«
    Und Sophie sieht, wie sich das Blut, das aus seinem Hinterkopf läuft, langsam auf seinem hellgelben Hemd ausbreitet. Er lächelt.
    Â»Genau so, Sophie.«
    Er steht dicht neben ihr, sie kann seinen Mundgeruch riechen.
    Â»Sie sind sehr gefährlich, Sophie. Doch die Männer lieben Sie. Nein? Sie bringen viele um. Wollen Sie alle umbringen, die Sie lieben, Sophie? Alle, die Ihnen nahekommen?«
    22
    D IESE G ERÜCHE, DIESE B EWEGUNGEN , diese Momente … In Sophies Blick zeichnet sich alles ab, was sie erwartet. Sie muss wissen, wann sie gehen muss. Im richtigen Moment. Aber das wird später sein, denn zurzeit muss sie noch spielen. Subtil spielen. Keine vordergründige Leidenschaft – eine Bindung, die durch ein oberflächliches, aber vielversprechendes Einvernehmen zustande kam. Sie haben vier Nächte miteinander verbracht. Dies ist jetzt die fünfte. Zwei Nächte in Folge. Denn man muss die Dinge beschleunigen. Mit einem Mädchen aus einer anderen Putzkolonne konnte sie für einige Tage die Schichten tauschen. Er hat sie abgeholt. Sie hakt sich bei ihm unter, erzählt von ihrem Tag. Beim zweiten Mal ist es bereits Gewohnheit. Ansonsten ist er fast übertrieben aufmerksam. Manchmal könnte manmeinen, sein Leben hinge von jeder kleinsten Bewegung ab. Sie will ihn beruhigen. Sie versucht, ihrer

Weitere Kostenlose Bücher