Der kalte Hauch der Angst
liebend gern untreu. Frauen sind belanglos. Sophie ist schlank. Schlanker als ihre Freundin.
Ich bereute schnell, das Lokal betreten zu haben. Dummerweise lief ich Gefahr, dass sie mich ansehen und sich aus irgendeinem Grund an mein Gesicht erinnern könnte. Warum nahm ich unnötige Risiken auf mich? Ich habe mir geschworen, dass mir das nicht mehr passiert. Doch diese Frau gefällt mir. Ich finde sie lebendig.
Ich spüre, dass ich über sehr spezielle geistige Gaben verfüge. Alle meine Sinne sind geschärft. Dadurch konnte ich diese überflüssige Episode in einen gewinnbringenden Umstand verwandeln. Ungefähr zwanzig Minuten nach den Frauen habe ich den Teesalon verlassen, und als ich meine Jacke an der Garderobe holen wollte, sah ich, dass ein Mann dort seinen Mantel aufgehängt hatte. Schnell fasste ich in die Innentasche und ergatterte eine schöne Brieftasche. Der Besitzer heiÃt Lionel Chalvin, Jahrgang 1969, also keine fünf Jahre älter als ich. Wohnhaft in Créteil. Sein Personalausweis ist noch ein altes Modell. Da ich nicht die Absicht habe, ihn vorzuzeigen, wenn man meine Papiere verlangt, habe ich ihn umgearbeitet, ziemlich gut übrigens, indem ich ein Foto von mir drübergeklebt habe. Manchmal bin ich wirklich froh, dass ich so geschickt bin. Wenn man nicht genau hinsieht, merkt man nichts.
15. Juni
Etwa zehn Tage hat es gedauert, bis mein Entschluss gereift war. Ich hatte gerade eine schreckliche Enttäuschung hinter mir â Jahre der Hoffnung wurden in wenigen Minuten vernichtet â¦Â Ich rechnete nicht damit, dass ich mich so schnell wieder davon erholte, doch merkwürdigerweise habe ich das Gefühl, dass ich es hinter mir habe. Das erstaunt mich. Ich bin Sophie Duguet von einem Ort zum anderen gefolgt, habe nachgedacht, sie beobachtet â¦Â Gestern Abend habe ich meine Entscheidung getroffen, als ich die Fenster ihrer Wohnung betrachtete. Sie ging vorbei, zog die Vorhänge mit einer entschlossenen und weit ausladenden Bewegung zu. Wie eine Sternensäerin. Etwas in mir kam in Gang. Ich begriff, dass ich in Aktion treten musste. Jedenfalls brauchte ich einen Plan B, ich konnte mich nicht dazu entschlieÃen, einfach so auf alles zu verzichten, von dem ich geträumt hatte, auf alles, was ich so lange gebraucht hatte. Ich begriff, dass Sophie alles in allem die geeignete Person wäre.
Ich habe ein Heft aufgeschlagen, um mir Notizen zu machen. So vieles gibt es bereits vorzubereiten, und ich glaube, das wird mir beim Nachdenken helfen. Denn diese Sache ist sehr viel komplizierter als die, die ich zuvor im Auge hatte.
Sophies Gatte ist ein groÃer Mann mit klugem Blick, und er wirkt sehr selbstsicher. Das gefällt mir. Gut, ja elegant gekleidet, wenn auch eher leger. Ich ging frühmorgens hin, um ihm aufzulauern und ihm zu folgen, wenn er aus dem Haus kam. Die beiden sind gut situiert. Jeder hat seinen eigenen Wagen, und sie wohnen in einem Luxusappartement. Sie könnten ein schönes Paar mit einer schönen Zukunft sein.
20. Juni
Vincent Duguet arbeitet bei der Lanzer Gesellschaft, einem petrochemischen Betrieb, über den ich mir eine umfangreiche Dokumentation besorgt habe. Ich verstehe die Dinge nicht im Detail, aber im Wesentlichen handelt es sich um eine deutsche Kapitalgesellschaft, die fast weltweit Zweigstellen besitzt und einer der Marktführer für Lösungsmittel und Elastomere ist. Hauptsitz der Lanzer Gesellschaft ist München, die französische Niederlassung befindet sich in La Défense (wo auch Vincent arbeitet). In Talence und Grenoble betreibt das Unternehmen drei Forschungszentren. Im Stellenplan rangiert Vincent als stellvertretender Leiter des Sektors Forschung und Entwicklung ziemlich weit oben. Er ist promoviert. Universität Jussieu. Ich finde, dass er auf dem Foto in der Werbebroschüre genauso aussieht wie in Wirklichkeit. Ein Foto jüngeren Datums. Ich habe es ausgeschnitten und an meine Korktafel gepinnt.
Sophie arbeitet bei Percyâs, einem Auktionshaus für antiquarische Bücher, Kunstwerke etc. Was genau sie dort macht, weià ich noch nicht genau.
Ich habe mit dem Einfachsten begonnen und erst einmal Erkundigungen über Vincent eingezogen. Bei Sophie scheinen die Dinge komplizierter zu sein. Das Unternehmen ist wenig auskunftsfreudig. In diesen Kreisen lässt man sich nie hinter die Kulissen blicken. Das Haus ist übrigens bestens bekannt, aber es
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