Der kalte Hauch der Angst
gibt darüber keine Informationen, die über allgemeine Angaben hinausgehen. Mir aber reicht das nicht. Es bringt nichts, wenn ich mich in der Gegend von Saint-Philippe-du-Roule, wo die Verwaltung von Percyâs sitzt, herumtreibe und Gefahr laufe, entdeckt zu werden.
11. Juli
Ich brauche genauere Angaben über Sophie; ich habe festgestellt, dass sie in letzter Zeit öfter mit dem Auto fährt â es ist Juli, und in Paris ist es ruhiger geworden. Ich habe nicht lange gebraucht, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich habe neue Nummernschilder für mein Motorrad anfertigen lassen, gestern habe ich sie angebracht und bin Sophies Wagen mit einigem Abstand gefolgt. Im Kopf habe ich bei jedem Halt das Szenario durchgespielt. Als Sophies Auto dann endlich als erstes an einer roten Ampel stand, war ich bereit, und alles lief wie am Schnürchen. Ich war ruhig. Ich fuhr auf die rechte Seite und stellte mich neben sie, wobei ich darauf achtete, genügend Spielraum zu haben, um ungehindert manövrieren zu können. Als die Ampel auf Gelb schaltete, musste ich nur die Hand ausstrecken, die Beifahrertür aufmachen, ihre Tasche schnappen, losfahren und in die erste StraÃe rechts einbiegen. In wenigen Sekunden hatte ich ein paar hundert Meter zurückgelegt, ich drehte mich drei-, viermal um, und fünf Minuten später fuhr ich in aller Ruhe bereits auf der UmgehungsstraÃe. Wenn alles so einfach wäre, würde es gar keinen Spaà machen â¦
Was für ein Wunder, die Handtasche einer Frau! Was für ein Wunder an Anmut, Intimität und Albernheit! In Sophies Tasche fand ich einen Haufen Dinge, die jeglicher Einordnung spotten. Ich ging methodisch vor. Zunächst all das, was mir keine Informationen lieferte: Abonnement â nur das Foto habe ich aufbewahrt  â , Nagelfeile, Einkaufszettel (sicherlich für den Abend), ein schwarzer Bic- Kuli, ein paar Päckchen Papiertaschentücher, Kaugummi. Alles andere war da schon aufschlussreicher.
Zuerst Sophies Vorlieben: eine »multiaktive« Handcreme der Marke Cebelia; ein Lippenstift von Agnès b. der Pflegelinie »Perfect«; ein Notizheft mit wenigen, ganz unterschiedlichen und oft unleserlichen Einträgen und einer Liste mit Büchern, die sie lesen wollte: Wassili Grossman, Leben und Schicksal; Alfred de Musset, Bekenntnisse eines Weltkindes; Lew Tolstoi, Auferstehung; Pietro Citati, Frauenporträts; Aleksandr Ikonnikow, Taiga-Blues ⦠Sie mag russische Schriftsteller. Im Moment liest sie Der Meister von Petersburg von J. M. Coetzee. Sie ist auf Seite 63, ich weià nicht, ob sie sich das Buch noch mal kaufen wird.
Ich habe ihre Notizen wieder und wieder gelesen. Ich mag ihre Schrift sehr: entschlossen, energisch, man liest Willenskraft, Intelligenz heraus.
Sophies Intimleben: eine angefangene Packung Nett- Tampons »mini«, eine Schachtel Nurofen (hat sie etwa Menstruationsbeschwerden?). Ich mache mir für alle Fälle ein rotes Kreuz in meinem Wandkalender.
Ihre Gewohnheiten: Auf ihrer Firmenkarte sehe ich, dass sie nur unregelmäÃig in der Kantine von Percyâs isst; sie geht gern ins Kino (Kundenkarte vom Balzac), sie hat nicht viel Bargeld bei sich (weniger als dreiÃig Euro im Portemonnaie), sie besucht in La Villette eine Vortragsreihe über kognitive Wissenschaften.
Und schlieÃlich das Wichtigste: Wohnungsschlüssel, Autoschlüssel, Briefkastenschlüssel, Handy (ich habe gleich die Nummern aus ihrem Speicher kopiert); ein Adressbuch, das schon älter sein muss, denn es gibt unterschiedliche Schriftbilder und Kugelschreiberfarben; ein ganz neuer Personalausweis (sie wurde am 5. November 1974 in Paris geboren); eine Geburtstagskarte, adressiert an Valérie Jourdain, Rue Courfeyrac 36 in Lyon:
Meine SüÃe,
ich kann gar nicht glauben, dass ein Mädchen, das jünger ist
als ich, schon so groà ist!
Du hast versprochen, in die Hauptstadt zu kommen â Dein
Geschenk wartet auf Dich.
Vincent schickt Dir Küsse. Ich, ich liebe Dich. Kuss.
Glückwunsch, meine SüÃe. Mach Dir einen schönen, ver-
rückten Tag!
Und dann noch ein Terminkalender, der mir viele sehr wertvolle Informationen über die vergangenen und kommenden Wochen liefert.
Ich habe alles kopiert und an die Korktafel gepinnt. Alle Schlüssel habe ich nachmachen lassen (von einigen weià ich nicht, wozu sie dienen), dann bin ich weit
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