Der kalte Hauch der Angst
lieber treu bleiben. Denn früher oder später kann man nicht mehr verbergen, wer man ist. Dann kann man es doch auch gleich zeigen, oder?«
»Sie sprechen von den Ãberseegebieten?«
»Ach, nicht nur. Man kann auch ins Ausland abkommandiert werden. Das ist aber eher selten.«
Sophie rechnet. Treffen, Heirat, Abreise, Arbeit, Trennung. Vielleicht ist es nur eine Illusion, dass sie ein paar tausend Kilometer entfernt eher in Sicherheit wäre. Intuitiv jedochdenkt sie, dort könnte sie sich besser verstecken. Während sie überlegt, zählt der Feldwebel seine Kameraden auf, die versetzt wurden, diejenigen, die eine Versetzung beantragt haben, diejenigen, die noch darauf hoffen. Mein Gott, ist dieser Mann langweilig und berechenbar!
20
Ich habe Angst. All die Toten kommen zurück. In der Nacht. Ich kann sie zählen, einen nach dem anderen. In der Nacht sehe ich sie an einem Tisch, sie sitzen nebeneinander. In der Nacht. Am Ende des Tischs Léo mit dem Schnürsenkel um den Hals. Er schaut mich vorwurfsvoll an. Er fragt: »Bist du verrückt, Sophie? Warum hast du mich erdrosselt? Bist du wirklich verrückt?« Sein fragender Blick durchbohrt mich. Ich kenne seine zweifelnde Miene, er neigt den Kopf ein wenig nach rechts und wirkt nachdenklich. »Ja, aber das ist nichts Neues, sie war schon immer verrückt«, sagt Vincents Mutter. Sie gibt sich selbstsicher. Ich sehe wieder ihre böse Miene, diesen Hyänenblick, höre ihre spitze Stimme. »Sie war bereits verrückt, bevor sie angefangen hat, alle möglichen Leute umzubringen und alles um sich herum zu zerstören, ich habe zu Vincent gesagt, dieses Mädchen ist verrücktâ¦Â« Wenn sie das sagt, macht sie ein wichtigtuerisches Gesicht, schlieÃt beim Sprechen lange die Augen, und man fragt sich, ob sie sie jemals wieder öffnen wird, solange sie spricht; die halbe Zeit hat sie die Lider geschlossen, um in sich selbst hineinzusehen. »Du hasst mich, Sophie, du hast mich immer gehasst, aber nachdem du mich jetzt umgebracht hast â¦Â« Vincent sagt nichts. Er schüttelt seinen ausgemergelten Kopf, als würde er um Gnade bitten. Und alle starren mich an. Sie sagen nichts mehr.Ich schrecke aus dem Schlaf auf. Wenn es so ist, will ich nicht mehr einschlafen. Ich gehe zum Fenster und stehe stundenlang rauchend und weinend da.
Ich habe sogar mein Kind umgebracht.
21
S EIT ETWAS MEHR ALS ZWEI W OCHEN treffen sie sich. In wenigen Stunden hat Sophie die Gebrauchsanweisung für den Feldwebel ausgearbeitet. Sie begnügt sich nun damit, ihre Eroberung ihrem Interesse entsprechend zu lenken, aber sie bleibt auf der Hut.
Er geht mit ihr in den Film 24 Stunden im Leben einer Frau und tut so, als würde er ihm gefallen.
»Im Buch gibt es nur zwei Frauengenerationen«, sagt Sophie, als sie sich eine Zigarette anzündet.
»Ich habe es nicht gelesen, aber das dürfte auch nicht schlecht sein.«
»Nein«, sagt Sophie, »das Buch ist auch nicht schlecht â¦Â«
Entsprechend ihrer Geburtsurkunde musste sie sich einen Lebenslauf zusammenstellen: Eltern, Studium, eine geheimnisumwitterte Geschichte, damit sie nicht zu viel von sich erzählen muss. Der Feldwebel fragt nicht nach. Vorsichtshalber lässt sie ihn viel erzählen. Wenn sie abends nach Hause kommt, macht sie sich Notizen, sie hat ein Heft, in dem alles steht, was sie von ihm weiÃ. Seine Geschichte ist unkompliziert. Und auch nicht besonders interessant. Geboren am13. Oktober 1973 in Aubervilliers, Mittelschule, Oberschule, Abschluss in Elektromechanik, Eintritt in die Armee, Einsatz im Nachrichtendienst, Diplom als Telekommunikationstechniker, Feldwebel, angehender Stabsfeldwebel.
»Wie wäre der Kalmar?«
»Man sagt auch âºTintenfischâ¹.«
Er lächelt.
»Ich nehme lieber ein Entrecôte.«
Nun lächelt Sophie.
»Sie bringen mich zum Lachen.«
»Wenn eine Frau das sagt, ist das im Allgemeinen kein gutes Zeichen â¦Â«
Der Vorteil von Soldaten ist ihre Transparenz. Er ist tatsächlich ganz und gar so, wie Sophie ihn beim ersten Treffen eingeschätzt hat. Sie hat unvermuteten Scharfsinn bei ihm entdeckt; der Junge ist nicht blöd, er ist einfach gestrickt. Er will heiraten, Kinder haben, er ist nett. Und Sophie darf keine Zeit verlieren. Sie hatte kaum Mühe, ihn zu verführen, er war bereits verführt, und Sophie tut genau das, was jede andere
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