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Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters

Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters

Titel: Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Stöver
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Jahre anhielt, war deshalb nicht nur eine Diskussion um den Zivilschutz, sondern auch um den Sinn eines Atomkriegs, bei dem es selbst den Überlebenden schwerfallen würde, zur Normalität zurückzukehren. 38 Die zentrale Rolle in dieser Debatte fiel einem Wissenschaftler zu, der wie kaum ein anderer zum Inbegriff des emotionslos berechnenden Technokraten des Atomkriegs wurde: dem Futurologen Herman Kahn. Als eine Verkörperung des «Dr. Seltsam» setzte ihm Stanley Kubriclc in dem 1963 gedrehten Streifen Dr Strangelove or Howl Learned to Stop Worrying and Love the Bomb ein satirisches Denkmal. Es ist nicht zwingend, ausschließlich Kahn als Vorbild für Kubricks Satire zu sehen. Auch John von Neumann, der mittels der von ihm entwickelten Computer ebenfalls Kriegschancen und -Verluste berechnete, gehörte wie Edward Teller und viele ihrer Schüler zu einer neuen Kategorie von Wissenschaftlern, die ihre «exakten Berechnungen» auch als Grundlage für politische Entscheidungen zur Verfügung stellten. Auch in der Sowjetunion wäre Kubriclc selbstverständlich fündig geworden. Doch Herman Kahn, der seit 1948 bei wichtigen Institutionen gearbeitet hatte, die die US-Regierung in Fragen der Verteidigungspolitik berieten -unter anderem bei der RAND Corporation und im Centerfor International Studies in Princeton -, war insofern etwas Besonderes, da zumindest sein Name weithin bekannt war. Er selbst bezeichnete sich als «einen der zehn berühmtesten unbekannten Amerikaner». 39 Dies lag nicht nur an seiner enormen Körperfülle, die er unter anderem auch den Lesern des LIFE Magazin auf einem Photo präsentierte, sondern vor allem an seinen umstrittenen Werken, die manche Kritiker schlicht für unmoralisch hielten. 40
    Kahn hatte kurz vor dem Start des Kubrick-Films zwei seiner wichtigsten Arbeiten vorgelegt. Die Untersuchungen On Thermonu-clear War (1960) und Thinking About the Unthinkable (1962) rechneten den Amerikanern zum einen vor, daß es falsch sei, den Nuklearkrieg von vornherein auszuschließen. Der Gegner müsse davon
    ausgehen, daß alles Verfügbare auch eingesetzt werde. Anhand von Modellrechnungen machte Kahn zum anderen deutlich, daß ein Atomkrieg bei der richtigen Vorbereitung keinesfalls das Ende der USA oder gar das Ende der Menschheit bedeute: Ein thermonuklearer Angriff auf 157 große Städte der USA koste die USA zwischen 85 und 160 Millionen Tote. Wenn man bereit sei, ein Zivilschutzprogramm aufzubauen, könne die Zahl der Opfer sogar verringert werden. 41 Für die Folgeschäden - Zerstörungen, Kontaminationen - eines weltweit geführten thermonuklearen Krieges berechnete Kahn, daß es sowohl für den Westen als auch für die Sowjetunion möglich sei, in einer «relativ kurzen Zeit» zum Lebensstandard vor dem Atomkrieg zurückzukehren.
    Kahns abstrakte Modellrechnungen und seine auch in späteren Arbeiten - so etwa in The Year 2000 42 - immer wieder präsentierte I Annahme, daß es zu einem solchen Krieg mit großer Wahrschein-
    I lichkeit kommen werde, zumal die Verbreitung von Atomwaffen rasant fortschreite, verstärkten in den USA noch einmal die ohnehin starke Nachfrage nach Schutzräumen. Schon seit dem Beginn der fünfziger Jahre hatte man dort, aber zum Beispiel auch in Großbritannien und anderen westlichen Staaten, den Bau von Schutzanlagen und Ausweichquartieren in Auftrag gegeben. In den USA wurde nun unter anderem ein atomsicherer Bunker unter dem Weißen Haus angelegt, ebenso auf dem Gelände des Präsi-denten-Landsitzes Camp David, nördlich der Hauptstadt Washington. Südlich Washingtons entstand der ebenfalls ausschließlich für die Regierung vorbehaltene Mont Weather Bunker in Bluemont im US-Bundesstaat Virginia. Im benachbarten West Virginia wurde in White Sulphur Springs zwischen 1959 und 1962 unter einem Hotel der Schutzraum Greenbrier angelegt. Er sollte als Bunker für Mitglieder des Kongresses einschließlich der Familien und Mitarbeitern dienen - insgesamt für etwa 800 Menschen. Auch US-Mi-nisterien bauten im Umkreis von einigen hundert Kilometern um die Hauptstadt nun insgesamt etwa einhundert Anlagen zur Auslagerung von Dokumenten. Unter anderem entstand in Raven Rock das Ausweichquartier des Pentagon. Stärker als in anderen Ländern entwickelte sich in den USA zudem eine eigene Industrie, die ihre Produkte für den Atomkrieg vor allem auch für den privaten Gebrauch anpries. So empfahl sich die in Chicago beheimatete Portland Cement Association schon 1955 in ihrer

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