Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters
relativer Ruhe. Es hatte mehr oder minder erfolgreiche lokale, regionale, aber auch globale Entspannungserfolge gegeben, die selbst durch die militärische Niederschlagung etwa der tschechoslowakischen Reformbewegung im «Prager Frühling» nicht grundlegend beschädigt werden konnten. Bewußt hatte sich der Westen 1968 auch verbal zurückgehalten, als die Warschauer-Pakt-Staaten den Moskauer Grundsatz von der begrenzten Souveränität der sowjetischen Satellitenstaaten in der CSSR mit Waffengewalt durchsetzten. Infolgedessen war die
Reaktion der europäischen Öffentlichkeit dann um so heftiger, als der Kalte Krieg am Ende der siebziger Jahre wieder sichtbarer nach Mitteleuropa zurückkehrte. Diese Rückkehr des Kalten Krieges an seinen Ursprung hatte sich schon während der Abrüstungsverhandlungen angekündigt. Zu deutlich war aus westlicher, insbesondere westeuropäischer Sicht, daß die UdSSR die vergangenen Abrüstungsverhandlungen mit den USA dazu genutzt hatte, das labile nukleare Kräftegleichgewicht in Mitteleuropa zu ihren Gunsten zu verändern und jene Waffensysteme auszubauen, die von den Verhandlungen noch nicht erfaßt worden waren. Dies war der Hintergrund, vor dem der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, zunächst im Mai und dann wieder im Oktober 1977, eine westliche «Nachrüstung» für den Fall gefordert hatte, daß die UdSSR ihr Potential an Mittelstreckenraketen in Europa weiter ausbauen würde. Der berühmt-berüchtigte «Doppelbeschluß» der NATO hatte dann am 12. Dezember 1979 den Termin für den Beginn der westlichen «Nachrüstung», die Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper, auf das Jahr 1983 gelegt. Insofern fiel der Beschluß automatisch in die Regierungszeit Reagans und wurde so zu einem Teil der offensiven Schlußphase des Kalten Krieges.
Die harsche Entweder-oder-Position des seit 1974 regierenden bundesdeutschen Kanzlers Helmut Schmidt fußte auf einem Sicherheitsdenken, das er wenige Jahre zuvor als «Strategie des Gleichgewichts» bezeichnet hatte. 17 Hier unterschied er sich in seinen Anschauungen auch deutlich von seinem Vorgänger Willy Brandt. Entspannungspolitik im nach wie vor hochgerüsteten Mitteleuropa war nach Schmidts Vorstellung keinesfalls zu jedem Preis erhältlich, sondern nur dann, wenn die eigene Sicherheit nicht gefährdet wurde. Tatsächlich konnte die Einführung neuer Waffensysteme die labile Balance schlagartig verändern. Hier lag er in der Einschätzung nicht weit entfernt von seinem Außenminister Hans Dietrich Genscher, der die Formel von der «realistischen Entspannungspolitik» prägte und insbesondere die Berlin-Frage als Prüfstein der Entspannung mit dem Osten betrachtete. 18 Zusammen waren sie sich mit anderen führenden Politikern Westeuropas dann auch in der Kritik an Carter einig. Der US-Präsident beharrte nach ihrer Auffassung zu weltfremd auf der Einhaltung der Menschenrechte im sowjetischen Machtbereich und setzte gleichzeitig zu deutlich auf den Moskauer Rivalen China. Der französische Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing tadelte schon wenige Monate nach Carters Amtsantritt öffentlich, daß die Amerikaner aus europäischer Sicht in den Beziehungen gegenüber dem Ostblock zu wenig Fingerspitzengefühl zeigten. 19 Daß diese Kritik ausgerechnet in der bekannten US-Zeitschrift Newsweek ausgebreitet wurde, verlieh der Sache zusätzliche politische Brisanz und machte die europäische Position zur Entspannung in der US-Regierung nicht beliebter. Immerhin boten die Franzosen wenig später sogar eine direkte Vermittlung an, die Carter allerdings nicht annehmen wollte.
Man kann die Aufgeregtheiten um die Entspannungspolitik bei gleichzeitiger Forderung nach einer «Nachrüstung» der eigenen Atomraketen, wie sie sich am 22. November 1983 auch in einer leidenschaftlichen Bundestagsdebatte zeigten, kaum politisch und schon gar nicht psychologisch einordnen, wenn man nicht die lang eingeübte europäische Bedrohungswahrnehmung im Kalten Krieg berücksichtigt. Wenn es zur militärischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken kommen würde, so war die einhellige Meinung immer gewesen, werde Mitteleuropa als nukleares Schlachtfeld im Zentrum stehen. Aus der Perspektive der westdeutschen Bundesregierung unter der Führung Schmidts war es daher zwingend notwendig, nicht nur Entspannungspolitik zu be-t reiben, sondern gleichzeitig das eigene Waffenpotential in Mitteleuropa hoch genug zu halten, um jeden Angriff s
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