Der kalte Kuss des Todes
Pistolentasche.
Ein Mann stieg aus. Als Iwan ihn erblickte, blieb er stehen. Auch der Inspektor in seiner Deckung rührte sich nicht von der Stelle. Verdammt, das war doch . . . Der Mann winkte Iwan zu. Sidorow, dessen Herz heftig klopfte, ließ aufatmend die Pistole sinken. Der Mann war nicht Stepan, sondern Dmitri. Iwan hatte ihn ebenfalls erkannt und ging auf ihn zu. Aber wie ähnlich sich die Zwillinge sahen!
Dmitri hatte den jüngeren Bruder offensichtlich abgepasst, weil er sich Sorgen um ihn machte, genau wie Kolossow. Dmitri wusste ja, welchen Weg Iwan von der Bahnstation aus nehmen würde, und war mit dem Wagen hergekommen.
Nun stand Dmitri neben dem Auto. Mehrere Male trat er mit dem Fuß gegen einen Reifen. Dann öffnete er den Kofferraum. Sidorow fiel auf, dass er Lederhandschuhe trug. War etwa keine Luft mehr in dem Reifen? Wollte er ihn flicken? Iwan, der das Auto jetzt erreicht hatte, sagte irgendetwas zu seinem Bruder und gestikulierte dabei nervös. Dmitri nickte bedächtig, als wolle er Iwan zu verstehen geben: keine Angst, wir fahren gleich. Er holte einen Gegenstand aus dem Kofferraum, schloss dann fast geräuschlos den Kofferraumdeckel und legte den Gegenstand darauf. Iwan ging zur Beifahrertür, beugte sich nach vorn, um sie zu öffnen. . .
Dann geschah alles in Bruchteilen von Sekunden. Dmitri sprang mit einem plötzlichen Satz auf seinen Bruder zu, drehte ihm den Arm auf den Rücken, zerrte ihn nach vorn und drückte ihn auf die Motorhaube. Mit der rechten Hand packte er ihn an den Haaren; die Finger der Linken schlossen sich wie Schraubstöcke um Iwans Hals.
Dann krachte ein Schuss. Gleich darauf ein zweiter. Ein wilder Schrei ertönte. Sidorow sprang aus seiner Deckung hervor, bereit, wieder und wieder zu schießen. Er begriff nicht sofort, wen er da wie wahnsinnig schreien hörte.
Es war Iwan. Er brüllte, winselte, kreischte hysterisch, fiel auf den Asphalt und versuchte, halb auf dem Rücken, halb auf der Seite liegend und wie eine Schabe mit den Beinen zappelnd, hinter das Auto zu kriechen.
Dmitri rührte sich nicht von der Stelle. Er presste die Hand auf den linken Unterarm, aus dem schwarzes Blut strömte, und starrte in die Mündung einer Pistole. Den Mann, der die Waffe in der Hand hielt, kannte er nicht. Dmitri erinnerte sich zwar noch gut an die Szene im Hof des Rasdolsker Milizreviers, als die verrückte Bettlerin ihn einen blutbespritzten Werwolf genannt hatte – eine Szene, bei der auch Sidorow zugegen gewesen war – , aber damals hatte Dmitri dem Inspektor keine Beachtung geschenkt.
Das Schicksal erlaubt sich bisweilen seltsame Scherze.
30 Solo für den Chef der Mordkommission
Der Juni ging langsam dem Ende entgegen. Eigentlich hatte sich gar nicht so viel geändert seit dem Tag, an dem die Schüsse auf dem Waldweg gefallen waren. Nur ein neuer Vorname war in dem Mordfall aufgetaucht; der Nachname war der Alte geblieben, und in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses saß nun ein weiterer Häftling.
Katja nahm die Geschehnisse äußerlich ruhig auf. Sie erklärte Sergej gegenüber sogar, sie werde jetzt unbedingt die ganze Wahrheit über diesen Fall schreiben. Sergej verstand sie nicht: Wie konnte man etwas so Persönliches, das die eigenen Freunde, Bekannten und Angehörigen betrifft, auf den Seiten einer Zeitung breitwalzen? Doch alle persönlichen Gefühle Katjas waren in dem Augenblick gestorben, als sie die über Funk eingehende Nachricht vom Mordversuch an Iwan Basarow gehört hatte – verübt vom eigenen Bruder, dem niemand einen so gemeinen und schrecklichen Verrat zugetraut hätte.
Iwan hatte sich von seinem schweren Schock mittlerweile ein wenig erholt und präzisere Aussagen gemacht. Sein Bruder Stepan befand sich noch immer auf der Flucht und war an keiner der den Ermittlern bekannten Adressen aufgetaucht. Der Plan »Fangschuss« war übrigens aufgehoben worden, denn jetzt war nicht mehr ein geisteskranker gefährlicher Mörder auf der Flucht, sondern ein »Verhaltensauffälliger psychisch Kranker«, der sich den Angehörigen der Miliz widersetzt hatte.
Der echte Mörder aber saß in einer Einzelzelle, schwieg bei den Verhören ebenso wie bei der Gegenüberstellung mit seinem jüngeren Bruder und lehnte es sogar ab, mit seinem Anwalt zu sprechen. Seine Verletzung war nicht lebensgefährlich, deshalb hatte man ihn aus dem Gefängniskrankenhaus in die Zelle verlegt.
Der Mörder bewahrte sein finsteres Schweigen auch dann, als Untersuchungsführer
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