Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
zögerlichen EG -Partner Rücksicht nahm, von denen manche selbst Probleme mit Separatisten hatten. Doch auch die Liberalen und Genscher würden über kurz oder lang dafür eintreten. Die deutsche Anerkennung, die Ehringer selbst inzwischen als notwendig erachtete, würde noch 1991 erfolgen, sie war lediglich eine Frage der Zeit und der Taktik.
Und dann wäre der Krieg beendet.
Am Nachmittag setzten sie die Kinder im Wald bei Thomas’ Wagen ab, fuhren bis Chemnitz hinter dem roten Ford her. Um Mitternacht waren sie zu Hause, auf dem Anrufbeantworter jene Nachricht von einer ihrer obskuren Quellen in Zagreb, die Margaret den Rest gab: Josip Reihl-Kir, der um die Versöhnung zwischen Kroaten und Serben bemühte Polizeichef von Osijek, war zwei Tage zuvor ermordet worden.
Sie rief zurück.
Eine halbe Stunde später setzte sie sich auf seine Seite des Bettes und erzählte flüsternd und in seltsamer Hast, dass Reihl-Kir unlängst Innenminister Boljkovac um seine Ablösung gebeten habe, er fürchte um sein Leben, HDZ -Hardliner sabotierten seine Versuche, den Frieden in Slawonien zu erhalten. Boljkovac habe erst abgelehnt, schließlich eingewilligt. Einen Tag bevor Reihl-Kir nach Zagreb gehen sollte, sei er an einem kroatischen Posten außerhalb Osijeks von einem Landsmann erschossen worden, einem Polizeireservisten, der den HDZ -Extremisten um Immigrationsminister Gojko Šušak nahestehe. Ein serbischer und ein kroatischer Lokalpolitiker, die sich in seinem Wagen befunden hätten, seien ebenfalls ums Leben gekommen.
Deine Freunde, die Kroaten, flüsterte Margaret.
Sie zog sich aus, legte sich ins Bett.
Wollte tagelang nicht aufstehen.
Der Tod eines Mannes, dem sie nie begegnet war, raubte ihr die letzten Widerstandskräfte.
Ein paar Wochen danach begleitete Ehringer sie zu einem Neurologen. Der Herbst und der Winter geprägt von Depressionen, Panikattacken, Medikamenten, im November drei Wochen Psychiatrie. Die Schrecken der schlimmen Jahre fielen über sie her wie ein Hornissenschwarm.
Für Jugoslawien interessierte sie sich nicht mehr.
Sie bekam nicht mit, dass Helmut Kohl am 27. November, offenbar unter dem Eindruck des Falles von Vukovar neun Tage zuvor, bekanntgab, die Bundesrepublik werde Kroatien und Slowenien im Alleingang noch vor Weihnachten anerkennen. Dass Genscher die EG -Partner im Dezember dazu brachte, dies unter bestimmten Voraussetzungen am 15. Januar ebenfalls zu tun, wenn die Untersuchung der Badinter-Kommission zur Situation der Minderheiten vor allem in Kroatien vorläge. Dass die Bundesregierung sich aus innenpolitischen Gründen nicht so lange gedulden wollte und die Anerkennung am 23. Dezember aussprach.
Zu diesem Zeitpunkt hatte auch Ehringer das Interesse an Jugoslawien weitgehend verloren. Er hatte beschlossen, so bald wie möglich aus dem Auswärtigen Amt auszuscheiden, um sich um Margaret kümmern zu können.
Irgendwo neu anfangen.
In Andalusien …
Weißt du noch, die Kraniche?
Natürlich, Liebes.
Ich würde da so gern noch mal hin. Zu den Kranichen im Coto de Doñana.
Das machen wir, Liebes.
Die Kinder riefen an, einmal Thomas, einmal Jelena, luden sie nach Rottweil ein. Ehringer vertröstete sie.
Er schreckte aus dem Halbschlaf. Die Kinder …
Unwillig wischte er sich den Speichel vom Kinn, tupfte sich die Brust mit dem Hemdsärmel trocken. Im Stuhl zu dösen bedeutete: Hemdenwechsel, und das war kompliziert.
Er machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer.
Man hatte ihm erzählt, sie seien zur Beerdigung gekommen, die Kinder.
Marković hatte es erzählt.
Auch Marković war dabei gewesen. Alle waren dabei gewesen.
Er nicht.
Er hatte im Koma gelegen, noch vier Wochen nach ihrem Tod am 24. Januar 1992. Dann war er erwacht und hatte sich weitere vier Wochen lang bemüht, ebenfalls zu sterben. Dann hatten Thomas und Jelena in seinem Krankenzimmer gesessen, und es hatte nach Ćevapčići gerochen, und er hatte begriffen, dass sie in allem, was ihn umgab, weiterlebte, solange er nicht vergaß – im Geruch der Ćevapčići, in der Russenmütze, in Jelenas tränennassen Augen, in seinem kaputten Körper, im Schnee vor den Fenstern.
Selbst in Ivica Marković.
Er hatte begriffen, dass er, wenn er bei ihr sein wollte, entweder an Gott zu glauben lernen oder aber am Leben bleiben musste.
Gott war ihm nicht liberal genug.
So stand er drei Monate nach Margarets Tod zum ersten Mal an ihrem Grab, gehalten von Thomas und Jelena. Den Kindern .
Er arbeitete sich eben in
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