Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
ein frisches Hemd hinein, als das Telefon klingelte. Erbost rollte er ins Wohnzimmer zurück.
Wilbert, natürlich. »Du hast wirklich ein Faible für den falschen Moment, oder ist das Absicht?«
Das fröhliche Lachen, das er so vermissen würde, wenn Wilberts Dienst an der Menschheit beendet war. »Wollen Sie jetzt zu Dietrich oder nicht, Mann?«
Der Himmel bedeckt, der Asphalt dunkel vom Mittagsregen. Zum ersten Mal seit dem Kranich-Ausflug mit seinem Neffen verließ Richard Ehringer das Heim. Er spürte eine Unruhe in sich, wie er sie lange nicht empfunden hatte. Aufgeregt wie ein Kind.
Er hatte keine Ahnung, was er mit seinem Besuch bei Dietrich bezweckte. Dinge über Thomas erfahren, die er noch nicht wusste. Eine eingebildete Schuld einlösen.
Einfach etwas tun .
Am Vormittag hatte der Neffe noch einmal angerufen, ihm erneut einen Vortrag gehalten. Ehringer hatte sich zerknirscht gegeben, um nicht vom Informationsfluss abgeschnitten zu werden. Ja, ja, du hast ja recht. Wo bist du eigentlich? Es klingt nach …
Flughafen Stuttgart, auf dem Weg nach Hamburg, dann Ratzeburg. Wieder ein Mord.
Und der Junge, dachte Ehringer, in den Händen der Mörder.
Er hörte Wilbert, bevor er ihn sah.
Ein grüner Wartburg aus dem Jahr 1989 mit VW -Motor und immerhin achtundfünfzig PS , trotzdem klang er schwachbrüstig. Vielleicht all das Plastik drumherum. Oder die Vorurteile.
Wilbert stieg aus, hob ihn auf den Beifahrersitz, er konnte das viel besser als der Neffe. Ehringers Blick fiel auf die vor ihm ins Armaturenbrett eingelassene kleine runde Uhr: eins.
Wilbert verstaute den Rollstuhl, stieg ein.
»Auf deine Weise bist du sogar pünktlich.«
»Wie spät ist es?«
»Fünf vor halb zwei.«
Wilbert strich mit der Hand über die Uhr. »Sie wird langsamer.«
»Du musst sie öfter aufziehen. Fahren wir?«
Wilbert wendete, begann zu berichten. Dietrich Marx, ehemaliger Söldner, aktiver Säufer, fünfzig Jahre alt, lebte in der Revaler Straße in Friedrichshain auf einer der Industriebrachen zwischen Clubs, Wagenburg und Eisenbahn. Er verdingte sich als freiberuflicher Leibwächter bedeutungsloser rechtsextremer Nachwuchspolitiker, pflegte sogar eine eigene Website, so hatten sie ihn gefunden: DIETRICH M. WENN ANDERE WEG LAUFEN , HAUT ER SIE RAUS .
»Dabei hat er nur noch einen Arm.«
Ehringer lachte überrascht. Ein Gespräch unter Krüppeln stand bevor.
»Den rechten natürlich«, sagte Wilbert und grinste.
Der Wartburg quälte sich durch Moabit.
»Ich hab ein Schwert dabei, zur Sicherheit.«
»Ein Schwert? «
»Vom Tai Chi.«
»Und was soll das bringen?«
»Haben Sie noch nicht verstanden, was das für ein Typ ist?«
Ehringer kicherte. »In jedem Falle ein Typ, dem mit einem Zeitlupentanz nicht beizukommen ist.«
»Alter Mann, Sie haben keine Ahnung.«
»Schalten, Wilbert, sonst fällt die Plastikdose auseinander.«
Um Viertel nach zwei krochen sie über die Oberbaumbrücke. Wilbert bog nach rechts ab, fuhr parallel zu den Gleisen an einer Mauer entlang, dahinter die weitläufigen Anlagen des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks, die Schilder von Clubs, Skateranlagen, Bars.
»Hier müsste es irgendwo sein.«
»Welche Hausnummer?«
»Er hat keine.«
Die Mauer schien endlos, hörte aber doch irgendwann auf, sie blickten auf halb verfallene Gebäude, jenseits einer Querstraße ein Supermarkt.
»Mist«, sagte Wilbert. »Muss weiter vorn sein.«
»Nein«, sagte Ehringer und deutete auf die Ruine. »Es ist hier.«
Inmitten von Sperrmüll und Geröll stand keine zehn Meter von ihm entfernt Thomas Ćavars roter Ford Granada.
48
FREITAG, 15. OKTOBER 2010
ÜBER DEUTSCHLAND
In zehntausend Metern Höhe war sich Lorenz Adamek plötzlich sicher.
Sascha Jordan und der Kapetan – der Mörder, der Zeuge.
Der Flug nach Hamburg war ruhig und längst nicht ausgebucht, er hatte eine Sitzreihe für sich, die Lehnen hochgeklappt, es half nicht. Saß er gerade, war es zu eng, drehte er sich, saß er schief. Wie er es auch anstellte, das Becken schmerzte.
Nach zehn Minuten stand er auf und ging zur Toilette. Schlenderte anschließend herum, blieb stehen, bewegte die Glieder.
Jelena hatte den Eindruck gehabt, dass Thomas und sie in Hamburg getötet werden sollten. Dann hatten Jordan und Igor sie verschont und Thomas entführt.
Adamek fand das plausibel.
Wenn ein Mörder nach fünfzehn Jahren vor dem Zeugen seines Verbrechens stand, konnte er ihn nicht gleich töten. Er wollte, ja – aber er konnte
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