Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
gehabt, in keiner Sekunde, schon gar nicht, nachdem er Dietrich offenbart habe, dass er kein Serbe, sondern Kroate sei.
»Ha, das ist das Beste!«, rief Petar. »Gelacht hat der! Von Bautzen bis Dresden hat der gelacht, was, Tommy?«
»Dreiundsechzig Kilometer«, sagte Milo.
»Dreiundsechzig Kilometer lang hat der gelacht!«
»Er hat sich gefreut«, sagte Thomas. »Er ist auf unserer Seite, er kämpft für uns.«
»Er würde für jeden kämpfen, der ihn bezahlt«, sagte Milo.
»Aber die Bolschewisten und das Serbenpack hasst er!«, rief Petar.
»Eine Serbin spült gerade deinen Teller«, entgegnete Milo.
Thomas grinste. »Seinen bestimmt nicht. Den stellt sie ihm morgen verkrustet zum Frühstück hin.«
»Wie? Sie übernachtet hier?«
»Seit Jahren, Papa«, sagte Milo.
»Jetzt nicht mehr, damit ist ab heute Schluss.«
»Er meint es nicht so«, sagte Thomas zu Margaret.
»Und ob ich es so meine! Ich will sie hier nicht mehr sehen!«
»Dann wirst du mich hier auch nicht mehr sehen«, sagte Thomas.
»Uns«, korrigierte Milo.
»Vielleicht sollten wir das Thema wechseln«, murmelte Ehringer.
»Hat jemand Zigaretten?« Petar zerknüllte das leere Päckchen.
»Hier«, sagte Thomas.
Die beiden rauchten schweigend.
»Jedenfalls war bei Rosenheim Schluss mit lustig«, sagte Milo.
Thomas zuckte die Achseln und nickte.
Auf einem Rastplatz vor Rosenheim näherten sich zwei Bundesgrenzschutzbeamte dem Palatschinken, Dietrich und er sprangen ins Gebüsch, schlüpften aus den Arztkitteln und rannten um ihr Leben. Die Polizisten vermuteten die Fahrer in der Raststätte, niemand folgte ihnen. Aus sicherer Entfernung riskierte Dietrich später einen Blick durch den Feldstecher und sah, dass die Hecktür offenstand, auf dem Asphalt lagen Verbandsrollen, am Horizont flackerten ein halbes Dutzend Blaulichter.
Renn, sagte er, und sie rannten weiter.
Irgendwann, warf Petar ein, habe Dietrich nicht mehr gekonnt, der habe sich die Lunge aus dem Hals gehustet, während der Tommy immer weiter gelaufen wäre, bis Rottweil wäre der gelaufen.
»Ich spiele Fußball«, sagte Thomas.
»Wenn er gewusst hätte, wo Rottweil ist«, sagte Milo.
Ehringer lachte leise.
Die Trennung stand an. Dietrich wollte nach Kroatien in den Kampf, Thomas nach Hause. Er bekam einen Armeekompass geschenkt, die Richtung gezeigt, immer nach Westen, und den Rat, öffentliche Verkehrsmittel zu meiden, bis er München hinter sich gebracht habe.
Als er Rottweil dreißig Stunden später erreichte, wartete die Polizei auf ihn – er hatte seinen Ausweis im Palačinke liegen gelassen.
»Unser Held«, sagte Milo und legte dem Bruder zärtlich den Arm um die Schulter.
47
FREITAG, 15. OKTOBER 2010
BERLIN
Essen um zwölf in der Wohnung, die restlichen Zeitungsteile ausgebreitet auf dem Tisch, Wirtschaft, Feuilleton, Sport, in dieser Reihenfolge, dann ein kurzes Schläfchen auf dem Sofa, falls Wilbert so gnädig war, ihn nicht zu vergessen, und kam, um ihn hinüberzuheben.
Mittagsrituale.
An diesem Freitag verzichtete Richard Ehringer auf den Mittagsschlaf, döste im Rollstuhl. Er hatte Wilbert zu seiner Freundin geschickt, die Suche nach Dietrich war wichtiger.
Die Fahrt von Rottweil nach Bautzen …
Margaret am Steuer, er hatte sich zu schlecht gefühlt, die gierige Frau hatte mitten in der Nacht in seinen Eingeweiden zu wüten begonnen. Thomas unter der Russenmütze hinten im Eck, verpennte die ganze Reise, während Jelena sich zwischen den Sitzen nach vorn lehnte und sprach und weinte und weinte und sprach. Die Anfeindungen der Rottweiler Kroaten, Thomas’ Prügeleien mit Söhnen von Ustaša-Familien, seine berufliche Zukunft, vor allem aber seine unerklärliche Sehnsucht, die ihn dem Einfluss der Nationalisten auslieferte – die Sehnsucht nach einer Heimat. An seinen Augen, sagte sie, erkenne sie, dass er eines Tages nach Kroatien fahren werde, um es mit der Waffe zu verteidigen. Und dann werde ich ihn verlassen, und dann wird er irgendeine Dummheit machen, und jemand wird ihn erschießen. Kroatien wird Tommy umbringen.
Nein, nein, murmelte Ehringer, der Krieg ist bald vorbei.
Ach?, sagte Margaret.
Er war zu erschöpft, um zu diskutieren.
Zwei Tage zuvor hatte auf Antrag der SPD eine Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses stattgefunden. CDU , CSU und SPD hatten die Anerkennung von Kroatien und Slowenien gefordert, falls die JVA weiterhin mit Gewalt vorgehe. Die F.D.P . war noch zwiegespalten, wie ihr Außenminister, der auf die
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