Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
verbreitet. Eine Mitarbeiterin hat gesagt, sie hätten nicht die Möglichkeiten, so was zu überprüfen. Das sei Aufgabe der Journalisten.«
Er lehnte sich vor, verschränkte die Finger. Löste sie, langte vorsichtig an den Bierflaschen vorbei, nahm ihre rechte Hand.
Ahrens hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ihr aufgrund einer zärtlichen Berührung Tränen in die Augen schießen wollten. Mühsam drängte sie sie zurück.
»Ob eine Information stimmt, ist egal«, sagte Vori. »Es geht nur darum, die Information, die dem Kunden nützt, möglichst schnell und weitflächig in Umlauf zu bringen. Dann hast du die Leute schon beeinflusst. Ich, ähm …«
Sein Griff wurde schwächer.
Sie schloss beide Hände um seine. »Weiter«, murmelte sie.
»James Harff, der damalige Ruder-Finn-Chef, hat das in einem Interview zugegeben. Lohnt sich zu lesen, es ist unglaublich. Die verstehen ihren Job. Haben es sogar geschafft, die amerikanischen Juden auf die Seite der Kroaten und der Muslime zu bringen, gegen die Serben, ihre Leidensgenossen aus dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl Tuđman antisemitische Tendenzen hatte und Izetbegović von einem fundamental-islamischen Bosnien geträumt hat. Harff wusste das. Als die ersten Berichte über serbische Lager veröffentlicht wurden, hat Ruder Finn sich an jüdische Organisationen gewandt und den Vergleich zu Nazi-Deutschland hergestellt. Viele Juden wandten sich entsetzt von den Serben ab. Aus den Lagern waren ›Konzentrationslager‹ geworden, aus den Serben Nazis, und kaum einer hat sich noch getraut, sich anzusehen, wie’s wirklich war.«
»Schlimm genug.«
»Ja, natürlich. Aber die Begriffe trafen nicht zu. Sie wurden benutzt, um zu manipulieren. Um die Wirklichkeit zu verschleiern. Ich meine, es ist verständlich, wenn ein bosnisch-muslimischer Politiker sagt, das alles erinnere ihn an Auschwitz. Aber es ist eben was anderes, wenn westliche Medien und Politiker das Wort aufgreifen. Irgendwo sitzt ein PR -Mann und reibt sich die Hände.«
»Verstehe. Bier ist keins mehr da, aber Rotwein.«
Vori nickte. Ein Glas Rotwein, zum Abschluss, warum nicht.
Sie holte Flasche und Gläser, schenkte ein.
»Das macht mich rasend«, sagte er. »Unsere Haltungen anderen Menschen und Ländern gegenüber basieren auf Phantasien. Auf den Lügen, die sich Dritte ausgedacht haben.«
»Die Wirklichkeit ist eben manchmal nicht zu ertragen.«
Vori erwiderte nichts.
»Ich hatte einmal für zwei Monate eine Tochter«, sagte Ahrens.
53
SAMSTAG, 16. OKTOBER 2010
IRGENDWO IN NORDDEUTSCHLAND
Regen trommelte aufs Wagendach. Andere Geräusche waren nicht wahrzunehmen. Gingen im Regen unter.
Sie standen seit vierzig, fünfzig Minuten. Jordan und Igor waren ausgestiegen, ein paar Minuten lang hatte er ihre gedämpften Stimmen neben dem Wagen gehört, dann hatten sich schnelle Schritte entfernt.
Sie waren noch nicht zurückgekommen.
Ein Parkhaus, dachte Thomas Ćavar. Fast eine Minute lang waren sie im Schritttempo im Kreis hinaufgefahren. Oberstes Stockwerk, nicht überdacht. Nah beim Auto musste es eine Möglichkeit zum Unterstellen geben.
Ein Parkhaus in einer Großstadt, auch das war nicht schwer zu erraten. Eine halbe Stunde lang hatten sie sich durch starken Verkehr bewegt.
Wieder und wieder hatte er überlegt, welche Städte in Frage kamen. Allzu lange waren sie nicht gefahren, seit sie Stjepans Wohnung am Freitagmorgen verlassen hatten. Kaum Autobahn, viel Landstraße.
Hamburg, Kiel, Lübeck, Bremen, Hannover, Rostock, Berlin.
In Berlin ist Mate Sjelo, der wird euch sicher helfen.
Mate Sjelo?
Du kennst ihn. Einer von Ivicas Mördern.
Natürlich kannte Jordan Mate Sjelo, seine Stimme hatte es verraten.
Vielleicht also Berlin.
Die Nacht auf einem Campingplatz. Sie hatten ihn zweimal ins Freie gelassen, als er aufs Klo musste. Hatten ihn geknebelt und gefesselt ins nahe Gebüsch gezerrt, ihm dort wenigstens Fuß- und Handbänder gelockert. Den Rest der Zeit hatte er liegend verbracht, eingezwängt erst im Kofferraum des Fiat, seit gestern Abend im Heck eines Kleinvans.
Er wusste noch immer nicht, was Jordan und Igor vorhatten. Ihn töten und anschließend untertauchen? Ihn nach Kroatien bringen? Warum sie ihn nicht längst getötet hatten.
Erzähl von dem Leben danach, Kapetane. Nach dem Krieg. Man kommt nach Hause – und dann?
Man heiratet, bekommt ein Kind.
Aber man denkt an den Krieg, man träumt davon, hast du gesagt. Man träumt von den Menschen, die einen
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