Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Stuttgart.
Wenn ich jemanden finde.
Wirst du. Wer will schon in Stuttgart studieren, wenn er nach Berlin kann?
Sie lachten viel, Josip hatte Humor, wenn er nicht gerade in Sorge um die Heimat war.
Denn die Lage spitzte sich zu.
Eine erste geheime Konferenz zwischen hochrangigen Republikvertretern und Generälen der Jugoslawischen Volksarmee Anfang Januar hatte kein Ergebnis gebracht.
Die Slowenen verlangten eine neue Form der Konföderation oder die Unabhängigkeit. Die Serben wollten Jugoslawien erhalten oder ein vergrößertes Serbien, das auch serbische Siedlungen in anderen Republiken umfasste. Die Kroaten ließen die Gegend um Knin von Spezialeinheiten des Innenministeriums abriegeln. Unter den Krajina-Serben mehrten sich die Rufe nach Hilfe durch die Armee.
»Dr. Kohl, verehrter Herr Genscher!«, rief Josip in seinem langsamen Deutsch. »Flehend bitten wir um Ihre Hilfe! Das bolschewistisch-totalitäre Regime in Belgrad versucht, die junge Demokratie in Kroatien zu ersticken! Reichen Sie uns Ihre starke Hand! Helfen Sie, die Bedrohung abzuwehren, bevor es zu spät ist!«
»Genscher! Genscher!«, skandierten Tausende, dann riefen sie: »Wir sind das Volk!«
Thomas trat zu einer Gruppe kroatischer Jugendlicher aus Rottweil. »Habt ihr eine Kippe?«
Einer schnippte ihm einen brennenden Stummel vor die Füße.
Er zuckte die Achseln. Nicht alle respektierten ihn. Manche hatten Probleme mit ihm, wegen Jelena. Vor allem die Ustaschenfamilien.
»Hier«, sagte ein Mann aus Hausen am Tann. Er war unrasiert und müde und hatte Tränen in den Augen.
Thomas nickte und ließ sich Feuer geben.
Sie hatten vor einer Woche auf dem Hof des Mannes selbstgemachten Kulen gegessen. Für einen Winterkulen ausgezeichnet, hatte Josip gesagt. Wird nie wie daheim schmecken, hatte der Mann erwidert. Die deutschen Schweine furzen zu oft.
»Danke«, sagte Thomas.
»Besucht uns im Sommer wieder. Der Sommerkulen ist noch besser.«
»Die bläst scheiße, deine Serbennutte«, sagte der Junge, der ihm die Zigarette vor die Füße geworfen hatte, auf Serbokroatisch. Alle sprachen Serbokroatisch in letzter Zeit, auch die, die weitaus besser Deutsch konnten.
»Dafür lässt sie sich in den Arsch ficken«, sagte einer neben ihm, der ganz in Schwarz gekleidet war.
»Als hättest du schon mal gefickt«, sagte Thomas.
»Deine Serbennutte haben alle gefickt.«
In plötzlicher Wut schlug Thomas zu, erwischte den Jungen mit der Hand am Hinterkopf. Er hob die Faust, um nachzusetzen.
»Nein!«, sagte der Mann aus Hausen am Tann und umklammerte seinen Arm. Er wies auf die zahlreichen Polizisten in der Nähe.
»Um Mitternacht«, stieß Thomas hervor.
»Da fick ich deine Schlampe«, sagte der in Schwarz.
»Mitternacht«, bestätigte der Erste.
»Schlagt keine Landsleute, schlagt die Serben!«, zischte der Mann aus Hausen.
»Erst die Verräter, dann die Serben«, sagte der in Schwarz.
»Er gehört zu Josip Vrdoljak, du Idiot, er tut mehr für unsere Sache als ihr beiden zusammen!«
»Um Mitternacht«, sagte der in Schwarz.
Thomas wandte sich ab. Es war nicht das erste Mal, es würde nicht das letzte Mal sein. Im Rottweiler Stadtgraben nahe der Hochbrücke waren schon einige nächtliche Schlachten geschlagen worden. Er gewann nicht immer, doch das war nicht das Problem: Jelena schöpfte Verdacht. Die Platzwunden und blauen Flecken ließen sich nicht jedes Mal durch Missgeschicke, Stürze oder Fußballfouls erklären.
Er hatte sich geschworen, ihr die Wahrheit zu verheimlichen. Er wollte nicht, dass sie wusste, wie manche über sie sprachen, und dass er sich ihretwegen schlug. Er wollte ihr Sorgen nehmen, nicht Sorgen bringen.
Durch das Rauschen des Zorns drang Josips Stimme, der nun wieder Serbokroatisch sprach: »… guter Freund hat vor kurzem gesagt, dass man nicht alle Serben hassen darf, nur weil Babić, Martić, Jović, Milošević Serben sind. Und ich sage euch: Er hat recht!«
Thomas sah zur Bühne hinüber. Dieser Teil der Rede war neu. Sein Zorn erlosch, der gute Freund, das war er.
»In unserer Sorge um die Heimat«, sagte Josip, »in unserer Angst und Wut dürfen wir eines nicht vergessen: Gott, unser Herr, lehnt Hass als Sünde ab. Als Menschen wollen wir hassen, als Katholiken dürfen wir es nicht. Vergessen wir das nie! Nur in unserem Glauben sind wir stark. Ich danke dir, mein Freund, für diese Mahnung! … Und jetzt wollen wir für einen Augenblick schweigen und der Heimat im Stillen gedenken.«
Josip
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