Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
viele!«, raunte ihr Vater ehrfürchtig, und Josip sagte, das müsse man eben neidlos anerkennen.
In Somalia war Siad Barre gestürzt worden, bei den Australian Open kämpfte am morgigen Sonntag Boris Becker gegen Ivan Lendl um den Titel und Platz 1 in der Weltrangliste. Und in Stuttgart hatten am Mittag achttausend Kroaten für »Freiheit und Demokratie« demonstriert.
Josip und ihr Vater jubelten.
»Wir sind im Radio!«
»Im Radio!«
»Und wenn wir im Radio sind, sind wir vielleicht auch im Fernsehen!«
»Stellt euch das vor! Im Fernsehen!«
»Aber wir waren fünfzehntausend!«
»Mindestens, eher mehr!«
»Nicht zu glauben, wir sind im Radio!«
Im Radio!, dachte Thomas beeindruckt.
Ihr Vater begann, die kroatische Hymne zu singen, und Josip fiel ein. Hände rüttelten an seinen Schultern. »Singt mit!«, rief Josip begeistert. Milo lachte nur, Thomas schwieg, er kannte die ersten beiden Zeilen, »Lijepa naša domovino/Oj junačka zemljo mila«, »Unsere schöne Heimat/Heldenhaftes liebes Land«, dazu die Melodie, mehr nicht.
»Das lässt sich ändern«, sagte Josip, nachdem die letzte Strophe gesungen war, und sprach bis Haigerloch geduldig Zeile für Zeile vor.
»Teci Dravo, Savo teci …«
»Teci Dravo, Savo …«
Ihr Vater stöhnte. »Dein Akzent ist eine Scheiße!«
»Du musst das ›R‹ rollen«, sagte Milo.
»Drrrravo«, wiederholte Thomas. »Die Save, das ist ein Fluss, oder?«
»Er kennt die Save nicht!«, rief ihr Vater.
»Ja, ein Fluss«, sagte Josip. »Sie fließt durch ganz Kroatien, von Zagreb im Norden bis zur Donau im Südosten.«
»Durch Slowenien und Serbien fließt sie auch«, warf Milo ein.
»Nicht mehr lange«, sagte ihr Vater.
»Und bura ?«
»Die bura ist ein Wind.«
»Der stärkste Wind der Welt!«, krächzte ihr Vater.
»Wegen der bura ist der Velebit so kahl«, sagte Milo.
Thomas warf ihm einen Blick zu. »Der was?«
»Du weißt wohl gar nichts über die Heimat? Ich muss mich entschuldigen, Josip. Meine Söhne sind schlechte Kroaten, einer wie der andere!«
»Kein Wunder«, sagte Milo. »Wir sind Deutsche.«
»Deutsche, die aussehen wie Kroaten?«
Milo lachte leise. »Höchstens wie Jugoslawen.«
»Jugoslawen?«, rief ihr Vater. »Wie soll das gehen? Wie kann einer gleichzeitig aussehen wie ein Kroate, ein Bosnier, ein Herzegowiner, ein Serbe, ein Slowene, ein Mazedonier, ein Kosovare und ein Montenegriner? Heh? Du redest Unsinn, Milo. Du bist und bleibst ein Kroate, wenn auch ein missratener.«
»Ich bin Deutscher, Papa.«
»Gib mir lieber noch eine Zigarette, statt solchen Unsinn zu reden.«
Wieder machte die Schachtel die Runde, flammten Feuerzeuge auf, wurden die Fenster heruntergekurbelt.
»Und du, Thomas?«, fragte Josip. »Was bist du?«
Er zuckte die Achseln. »Chauffeur.«
Alle lachten, Josip klopfte ihm auf die Schulter, sagte: »Der Velebit ist ein Gebirge an der kroatischen Küste, und jetzt sing, Thomas, sing!«
»An der jugoslawischen Küste«, sagte Milo, doch da sangen sie schon, der Vater, Josip, er, »Lijepa naša domovino/Oj junačka zemljo mila«, »Unsere schöne Heimat/Heldenhaftes liebes Land«, dreimal hintereinander und jedes Mal lauter; singend fuhren sie in Balingen ein.
Nachdem die letzten Töne verklungen waren, klopfte Josip ihm auf die Schulter und rief: »Jetzt bist du ein kroatischer Chauffeur!«
Mit amerikanischem Auto und russischer Mütze, dachte Thomas zufrieden.
»Was wird dann mit Jelena?«, fragte Milo.
»Mit Jelena?«
»Wenn du jetzt Kroate bist.«
Er lenkte den Granada in eine Seitenstraße. »Versteh ich nicht.«
»Wenn es Krieg gibt, musst du dich entscheiden.«
»Entscheiden?«
Milo schwieg.
»Zigarette«, sagte Thomas. Milo steckte ihm eine Zigarette in den Mund, entzündete sie. »Warum muss ich mich entscheiden?«
»Hier rechts«, sagte Josip ruhig.
»Weiß ich.« Thomas bremste im letzten Moment, bog ab. »Es wird keinen Krieg geben.«
»Die Armee rückt aus den Kasernen aus, die Kroaten bewaffnen sich«, sagte Milo. »Und Tuđman …«
»Es wird keinen Krieg geben«, wiederholte er.
Er hielt vor Josips Haus, starrte auf seine Hände, die das Lenkrad nicht losgelassen hatten. Die Fingerspitzen der rechten schmerzten leicht, Ustaschenköpfe waren hart.
Vielleicht, dachte er, war es an der Zeit, dass er allein in den Stadtgraben ging. Es war eine Sache zwischen ihm und den Ustaschen, Milo hatte nichts damit zu tun. Und er war keine Hilfe mehr. Ja, dachte Thomas, er würde allein
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