Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Rufe erklangen, die Ersten klatschten, dann immer mehr.
Es war so weit.
Fünfzig Meter von Thomas entfernt trat Josip im Mittagsgrau als letzter Redner ans Mikrofon und rief: »Landsleute!«
Beifall und Jubel explodierten, rot-weiß-blaue Flaggen wurden geschwenkt, dazu Wimpel, Mützen, Schals mit dem rot-weißen Schachbrettwappen. Die Transparente spannten sich wieder, zeigten ihre Slogans: »Wir wollen kein zweites Litauen in Kroatien«, »Kroatische Demokratie von Militär bedroht«, »Für die Heimat bereit«.
»Wir wollen Frieden!«, rief Josip.
»Frieden!«, erwiderten die Menschen, »Frieden!«
Thomas kannte viele persönlich, manche seit Jahren, andere erst, seit er für Josip arbeitete. Immer wieder wurde er an diesem Tag gegrüßt, riefen ihm die Leute freundliche Worte zu. Mädchen sahen ihn mit großen Augen an, Jungs grinsten und senkten den Blick. Man respektierte ihn. Er fuhr Josip Vrdoljak.
Ein Autotelefon?
Dann könntest du mich immer anrufen.
Ich ruf dich doch nicht an, wenn du fährst, Tommy!
Er lächelte vor sich hin. Jelena, die überall Gefahren sah, dem Leben nicht vertrauen konnte. Bald waren sie fünf Jahre zusammen.
Die fünf besten von zwanzig Jahren.
Die ersten fünf vom Rest ihres gemeinsamen Lebens.
Er tastete nach der Zigarettenschachtel, fand sie nicht. Im Auto hatte er sie Milo gegeben, der nach Stuttgart mitgekommen war, um Besorgungen zu erledigen. Ganz oben auf der Einkaufsliste: Bonn. Die Mutter hatte bald Geburtstag, ein Bonner Teller fehlte noch.
Er stand auf, ging über den Kiesweg zum Rand der Menge.
»Und die Freiheit!«, schallte es über den Platz.
»Freiheit! Freiheit!«
Josip wartete, bis die Rufe verklungen waren, eine Faust erhoben, ein wuchtiger, leidenschaftlicher Mann, der keine Mühe hatte, Tausende in seinen Bann zu ziehen. Thomas hatte rasch begriffen, worin sein Geheimnis lag – er verhielt sich nicht wie andere Politiker. Er trug schlichte Kleidung, billige Schuhe, ließ sich von einem Zwanzigjährigen in einem verbeulten roten Ford über die Dörfer fahren. Fast täglich ging er in die Kirche, er sang mit Tränen auf den Wangen Volkslieder aus der Heimat, und seinem zerfallenen Gesicht war anzusehen, dass er zu viel geschmuggelte Šljivovica trank.
Die Menschen mochten ihn. Er sprach ihre Sprache, teilte ihre Sorgen und vor allem ihre Sehnsüchte.
»Frieden und Freiheit für unsere Heimat, für Kroatien!«
»Kroatien! Kroatien! Kroatien!«
»Die Heimat!«, wiederholte Josip zärtlich.
Für einen Moment herrschte Stille. Das Wort schien im Klang der vollen Stimme über dem Schlossplatz zu schweben, eine Art traurige Frage, so kam es Thomas vor, auf die niemand eine Antwort zu geben wagte.
Zum ersten Mal schnürte ihm das Wort die Kehle zu. Das Wort und eine unbestimmte Sehnsucht.
Dabei hatte er doch eine Heimat, dachte er. Eine, in der Frieden und Freiheit herrschten und die ihm Jelena geschenkt hatte. In der es das Leben grundsätzlich gut meinte mit ihm, auch wenn es ungemütliche Tage wie diesen brachte.
Josip sprach weiter. Thomas kannte die Rede, sie war im Granada entworfen, korrigiert und schließlich ins Diktafon gesprochen worden.
Was sagst du dazu?
Ich weiß nicht. Sie ist sicher gut.
Aber?
Ich hasse die Serben nicht.
Weil Jelena Serbin ist?
Ja. Und andere Leute in Rottweil.
Aber die Serben hassen uns, Thomas. Vielleicht nicht die in Rottweil, aber die anderen. Die in der Krajina, in Bosnien, in Belgrad.
Die kenne ich nicht.
Ich schon, Thomas. Gut genug, leider.
Josip fragte oft nach seinen Eindrücken. Ein Sechzigjähriger, der sich interessiert zeigte an dem, was die Jugend dachte. Der sich Rockmusik erklären, von Kinofilmen erzählen ließ. Ach, deswegen die hohen Stiefel … Dann möchte ich das nicht sehen, nein, das gefällt mir nicht, die Julia Roberts als Prostituierte …
Ein-, zweimal pro Woche buchte die Partei Thomas und den Granada. Nach und nach vertrieb der Lavendelduft alle anderen Gerüche aus dem Wageninneren. Die Rückbank wurde zum Büro, Josip saß in der Mitte, vertieft in Gedanken oder Geschriebenes, rechts und links von sich Papiere, Broschüren, Bücher, Korrespondenz. Hin und wieder legte er Thomas die linke Hand auf die Schulter und erkundigte sich nach der Familie, nach Jelena, dem Stand der Dinge in Sachen Studienplatzbewerbung.
Nicht vergessen, 15. Januar, du denkst doch daran?
Und was mache ich, wenn die mich nach Berlin schicken?
Dann tauschst du mit jemandem aus
Weitere Kostenlose Bücher