Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
gehen.
Im Rückspiegel begegnete er Josips Blick; er machte keine Anstalten auszusteigen.
Noch immer sprach niemand.
Dann räusperte Milo sich. »Tuđman will die Unabhängigkeit, und das geht nicht ohne Krieg. Eine halbe Million Serben leben in Kroatien. Glaubst du, die schauen einfach zu, wenn Kroatien sich für unabhängig erklärt? Die Krajina ist schon abgeriegelt.«
Neben Thomas’ Ohr erklang die aufgeregte Stimme ihres Vaters: »Wenn es Krieg gibt, dann ist das die Schuld der Serben, nicht unsere!«
»Egal«, sagte Milo.
»Egal? Das ist nicht egal!«
»Für Tommy ist es egal. Wenn es Krieg gibt, muss er sich entscheiden.«
Thomas wandte sich Milo zu, stieß hervor: »Warum?«
»Weil Jelena Serbin ist.«
»Na und? Was spielt das für eine Rolle? Was geht uns der Krieg an?«
»Wir wollen nicht streiten«, sagte Josip sanft. Wieder berührte ihn die große Hand, warm lag sie auf seiner Schulter. »Jelena ist in Kroatien geboren, richtig?«
»In Vukovar.«
»Na also! Dann ist sie keine Serbin, sondern eine orthodoxe Kroatin. Wo ist das Problem, Milo Ćavar?«
Es gibt kein Problem, dachte Thomas und sah wieder auf seine Hände.
»Vukovar ist das Problem«, sagte Milo.
Der Sonntagmorgen eisig und grau, wie die Gedanken. Natürlich hätte der Krieg mit ihnen zu tun. Er würde alles zerstören.
Als Jelena mittags kam, hatte Thomas kaum geschlafen. Dafür hatte er eine Lösung.
»Sch«, flüsterte er und deutete auf Milos Bett.
»Ist er krank?«
»Zu viel getrunken.«
»Was? Der Milo?« Sie streifte die Schuhe ab, schlüpfte zu ihm unter die Decke und murmelte: »Mein Sonnenschein und ich …« Als sie sich an ihn schmiegte, zuckte er zusammen. Der Ustasche in Schwarz hatte einen Schlagring am Finger gehabt. Sein Körper hatte Wülste und Dellen wie der Granada, nur buntere.
»Kalt«, flüsterte er.
»Entschuldige. In zehn Minuten gibt’s Mittagessen, sagt deine Mama.«
Sie küssten sich.
Stunden der Entscheidungen, der Lösungen.
Milo war am Boden zerstört gewesen. Du lässt mich nicht mitkommen?
Es ist meine Angelegenheit.
Aber es war immer unsere Angelegenheit!
Jetzt nicht mehr.
Später, im Stadtgraben, hatte er oben auf der Hochbrücke im Widerschein des Mondes eine Gestalt gesehen, die zu ihnen heruntergeblickt hatte. Am Ende des dritten und letzten Kampfes war sie verschwunden.
Thomas war gegen zwei nach Hause gekommen, Milo erst im Morgengrauen. Wortlos war er ins Zimmer gewankt, angezogen aufs Bett gefallen.
Er löste sich von Jelena. »Hast du die Nachrichten gesehen?«
»Ja.«
»Achttausend, haben sie gesagt, aber es waren mehr, sicher fünfzehntausend.«
»Fünfzehntausend Demokraten.«
»Na ja, ein paar Ustaschen waren auch dabei.«
Sie grinsten.
Kein idealer Moment, dachte er. Der schnarchende Milo, die Dunkelheit, der Geruch nach Alkohol und Körperausdünstungen, und statt des Mondes oder der Sonne hing ein Poster des VfB Stuttgart über ihnen.
»Heiraten wir«, flüsterte er.
Jelena gab ein seltsames Geräusch von sich, das er bei ihr noch nie gehört hatte. Eine Art Fiepen, wie der Welpe Methusalem fiepte, während man ihm den Bauch kraulte.
»Wenn man sich nach fünf Jahren nicht sicher ist, dann nie. Ich bin mir sicher. Und du?«
»Du würdest eine Serbin heiraten, Tommy?«
»Sicher. Eine Serbin, eine Jüdin, spielt keine Rolle.«
Sie kicherten.
Milo hatte behauptet, dass Tuđman im Wahlkampf 1990 gesagt habe, er danke Gott dafür, weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Ein Scherz natürlich, Tuđman hatte Humor, auch wenn Milo anderer Ansicht war. Doch Milo führte seinen eigenen Krieg, revoltierte gegen den Vater und alles, wofür der stand. In dem, was Milo sagte, war zu viel Milo und zu wenig Wirklichkeit.
»Und du?«, wiederholte er. »Bist du dir nicht sicher?«
»Doch. Aber dein Vater wäre dagegen. Josip auch.«
»Josip nicht. Er sagt, du bist keine Serbin, sondern eine orthodoxe Kroatin.«
Jelena lachte rau. »Was es plötzlich alles gibt.«
»Außerdem ist es mir egal, ob jemand dagegen ist.«
»Ich weiß.«
»Also?«
Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. »Wir warten noch.«
»Worauf?«
»Bis wir herausgefunden haben, was wir sind, Tommy. Kroaten, Serben oder Deutsche.«
18
DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010
ROTTWEIL
Natürlich, dachte Lorenz Adamek, als er aus dem Bahnhofsgebäude auf die sonnige Straße trat.
Daimler-Land.
Er ging auf den schwarzen C-Klasse-Kombi zu, der in zweiter Reihe stand.
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