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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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sich Informationen, über die niemand sonst verfügte, nicht einmal Josip, und so bezweifelte Thomas, dass sie der Wahrheit entsprachen. In Zagreb, behauptete Milo, riefen Demonstranten »Raus mit den Serben, Kroatien den Kroaten!«. Angeblich hatten Tuđmans Verteidigunsminister und Innenminister gedroht, dass die Serben für immer vertrieben würden. Dass die Kroaten die Krajina einnehmen und serbische Familien bombardieren und Hackfleisch aus ihnen machen würden. Die Serben hätten verständlicherweise Angst, sagte Milo, dass die Ustaša auferstehe. Im Wahlkampf habe die HDZ erklärt, dass auch die bosnische Herzegowina zu Kroatien gehöre, und die bosnischen Kroaten würden das Wahlrecht für Kroatien bekommen – die bosnischen Kroaten, Tommy! –, und in der Krajina tauchten kroatische Schwarzhemden auf wie damals zu Ustaša-Zeiten …
    Tschetnik-Propaganda!, brüllte ihr Vater.
    Blutige Ostern in Plitvice, unheilige Ostern in Rottweil.
    »Da kommt Methusalem«, sagte Jelena.
    Leise Schritte trippelten über den Scheunenboden, ein unterdrücktes Bellen erklang. Ein Hund, der wusste, wann er leise zu sein hatte. Der Geheimnisse bewahren konnte.
    Jelena erhob sich. »Komm.«
    Thomas setzte die Russenmütze auf, sie stiegen die Leiter hinunter, wo der Hund schon wartete. Das goldgelbe Fell glänzte schwach im Mondlicht, der Schweif ging hin und her. Die Schnauze suchte Jelenas Hand und vergrub sich darin.
    Sie sahen sich seltener jetzt, nur noch alle zwei, drei Tage. Jelena studierte in Stuttgart, er fuhr Josip Vrdoljak.
    Manchmal hatte er Angst, dass sie einen Studenten kennenlernte, den sie hübscher fand, intelligenter, liebevoller . Aber da war dieses Gefühl, dass sie zueinander gehörten. Er spürte es, Jelena spürte es. Dann, hatte Josip gesagt, ist es auch so, dann gehört ihr zusammen, du und deine orthodoxe Kroatin.
    Wenn nur diese Wochen und Monate schon vorbei wären.
    Jahre, hatte Milo gesagt. Der Krieg wird Jahre dauern.
    Es wird keinen Krieg geben!
    Er hat doch schon angefangen, Tommy.
    Nicht darüber reden, nicht daran denken.
    Jelena gelang das, ihm weniger. Sie hatte den Blick ganz auf das Leben hier gelenkt, auf sich, auf ihn, das Studium. Was »dort unten« geschah, nahm sie mit Betroffenheit wahr, aber ihre Stabilität geriet nicht in Gefahr. Sie rief ihre Verwandten in Vukovar und Borovo Selo an und fragte, ob sie helfen könne. Braucht ihr was? Seid ihr in Sicherheit? Wollt ihr herkommen? Sie ließ keinen Zweifel daran, wo ihr Platz und ihr Herz waren: hier, in Deutschland.
    Nichts konnte an ihrer Haltung etwas ändern. Nicht die Vorwürfe ihrer Eltern, denen sie zu wenig serbisch dachte, nicht die Anfeindungen seines Vaters, der in ihr nur noch die Serbin sah. Nicht die Beleidigungen, die die Ustaschenenkel ihr als Freundin eines Kroaten inzwischen unverhohlen auf der Straße entgegenschleuderten.
    Aufrecht ertrug sie, was man ihr an den Kopf warf.
    Wir dürfen uns nicht da reinziehen lassen, Tommy, sagte sie oft.
    Ich weiß, erwiderte er dann und schlug die Augen nieder und dachte an ein karges Gebirge über einer blauen Küste.
    Kurz darauf kam Markus. Er schaltete das Licht ein und setzte sich zu ihnen. Das weiche, runde Gesicht glänzte feucht. »Der Heuboden«, sagte er.
    Thomas ballte die Hände zu Fäusten. »Schon wieder? Fällt ihm nicht mal was anderes ein?«
    Zum dritten Mal in diesem Frühjahr verlangte Markus’ Vater, dass der Heuboden gekehrt wurde, der einem Gerümpellager glich. Neben den Dutzenden Heuballen zehn halb verrottete Pferdesättel, zwanzig Farbeimer, weil das Wohnhaus irgendwann gestrichen werden sollte, uralte Kleinmöbel, Werkzeug und anderer Krempel. Alles erst hinunter, dann wieder hinauf.
    Die Ballen konnten sie werfen, der Rest musste über die Leiter getragen werden.
    Markus rieb sich die Augen. »Er sagt, er ist krank.«
    »Dein Vater?«, fragte Jelena.
    »Sagt der Arzt.«
    »Was hat er?«
    »Darmkrebs. Er sagt, er macht es nicht mehr lang, höchstens noch ein paar Jahre. Es ist ein aggressiver Krebs.«
    »Das tut mir leid, Mägges.«
    »Ich hab dann keinen Vater mehr.«
    »Vielleicht kriegen sie es in den Griff.«
    »Er sagt nein.«
    »Er sagt viel, wenn er betrunken ist«, warf Thomas ein.
    Markus lachte, obwohl ihm wieder Tränen übers Gesicht liefen. »Ich hoffe, diesmal hat er recht.«
    Niemand erwiderte etwas.
    »Fangen wir an.« Thomas zog die Russenmütze ab und band sie Methusalem um den Kopf.
    Schweigend gingen sie an die Arbeit. Erst die

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