Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Ballen, sie schoben sie an den Rand des Heubodens und ließen sie die drei Meter hinabstürzen. Die Kühe wurden unruhig, wachten auf und muhten, Methusalem rannte mit der Russenmütze herum und sorgte für Ordnung. Bellte Kühe an, bellte Heuballen an.
Sie lachten, Markus weinte nicht mehr.
Bisher hatten sie sich immer Mühe gegeben, möglichst leise zu sein, jetzt nicht mehr. Selbst Markus schien es gleichgültig zu sein, ob sein Vater sie hörte.
Krvavi Uskrs na Plitvicama. Was zählte da ein Besoffener?
»Die Russen kommen!«, schrie Markus und warf einen Heuballen hinab.
»Die Russen und die Nazis!«, rief Jelena.
Die Ballen wurden zu Bomben. Zerrissen russische Panzer und Regimenter und Nazi-Horden.
Zerrissen Tschetniks …
Josips Hände, die zeigten, wie Kroatien Stück um Stück verschwand, verschlungen vom großserbischen Traum. Nie, dachte Thomas, würde er den Velebit erkunden können, die Seen im Nationalpark Plitvice, Osijek, wo Milo, Vukovar, wo Jelena geboren war. Überall flohen die Kroaten. Alles wurde Serbien.
Die Heimat ging unter.
»Wisst ihr, was wir als Erstes machen, wenn er tot ist?«, rief Markus. »Wir kehren den Heuboden!«
Lachend trugen, zogen, schoben sie die Quader aus gebundenem Heu zum Rand des Bodens, warfen oder stießen sie hinunter. Vielleicht, dachte Thomas, wollten sie ja, dass der alte Bachmeier kam. Wollten ihm das Heu auf den Kopf werfen.
Er war an Markus vorbei zur Stallwand zurückgelaufen, um den nächsten Ballen zu holen. Ein Schrei ließ ihn herumfahren.
Markus war verschwunden.
Er hörte einen Aufprall, Holz barst, dann ein hohes Wimmern.
Jelena rannte zur Leiter, er folgte ihr, griff mit den Händen nach der Kante, schwang sich hinunter. Er landete auf einem der Heuballen, glitt ab, fand das Gleichgewicht wieder.
Sah ein linkes Bein in die Höhe ragen, als wäre es ohne Rumpf aus den Bodenplanken gewachsen, Fingerspitzen an unsichtbaren Händen tasteten von unten nach den Bretterkanten.
Methusalem, der mit den Zähnen an Markus’ Hose zerrte, Jelena, die sich über ein Loch im Fußboden beugte.
Da erklang aus dem Untergrund eine hohe, verzweifelte Stimme: »Ich will nicht sterben … Tommy … Ich will nicht sterben …«
Der alte Bachmeier nicht mehr ansprechbar, die Mutter aufgelöst und in Panik und keine Hilfe. Weder der Schlüssel für das Auto noch der für den Traktor waren zu finden. Sie mussten zum Nachbarn, dort stand, versteckt vor Markus’ Vater, der Granada.
Thomas rannte in den Stall zurück. »Wir müssen ihn tragen!«
»Die Schubkarre!«, sagte Jelena.
Vorsichtig hoben sie Markus aus dem Hohlraum unter dem Fußboden. Er hatte sich erbrochen, stöhnte tonlos. Als er sein rechtes Bein sah, das an mehreren Stellen gebrochen war, verlor er das Bewusstsein.
Sie füllten die Karre mit Heu, legten ihn hinein. Thomas schob, Jelena hielt das verletzte Bein, Methusalem lief voran.
In der Dunkelheit fiel es ihnen schwer, auf dem schmalen, festeren Grasgrund neben der Schotterstraße zu bleiben. Immer wieder gerieten sie nach links oder rechts vom Weg ab, steckten fest, sackten in Schlaglöcher.
Markus erwachte, wimmerte: »Ich will nicht sterben, Tommy!«, fiel wieder in Ohnmacht.
Sie brauchten fast zehn Minuten für die zweihundert Meter.
Der Nachbar und seine Frau halfen, sie kannten sich ein wenig aus mit Verletzungen. Sie hoben Markus auf die Rückbank eines Kleintransporters und fixierten das rechte Bein.
»Ist der Alte besoffen?«, fragte der Nachbar.
»Ja«, sagte Thomas.
»Hol ihn der Teufel!«
Jelena setzte sich zu Markus, Thomas wollte im Granada folgen. Als der Transporter den Hof verließ, überlegte er es sich anders. Er startete den Motor und fuhr in die entgegengesetzte Richtung.
Schottersteine krachten im rasenden Rhythmus gegen den Unterboden. Die Scheinwerfer erfassten den Bachmeier’schen Hof, verloren ihn wieder, während der Granada schlitternd darauf zuschoss.
Den Teufel brachte.
27
DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010
NAHE ROTTWEIL
Milena, das schönste Mädchen von Briševo …
Einen Herbst und einen Winter lang waren sie ein Paar gewesen, er siebzehn, sie sechzehn. Er brachte ihr bei, wie man den grünen Zastava 128 ihres Vaters fuhr, sie erklärte ihm, wie man rechnete und schrieb und weshalb seine Vorfahren vor zwei Jahrhunderten aus der deutschen Pfalz in den Nordwesten Bosniens gekommen waren.
Die werde ich mal heiraten, erzählte er seinen Eltern.
Milena mit den Sommersprossen, einen halben Kopf
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