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Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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größer als er, die Finger dünn und weiß wie die Zigaretten, die sie heimlich rauchten, die Brüste klein und rätselhaft, in den Augen saß ein starker Wille.
    Im Frühjahr 1986 verschwand der Zastava mit Milena und ihrer Familie für immer jenseits der Hügel in Richtung Belgrad.
    Ja, schlimm, sagte sein Vater. Aber so ist es eben.
    In Omarska hatte er Igor von Milena erzählt.
    Die große Dünne mit den Sommersprossen, die mit den Jungs auf Kaninchenjagd gegangen ist?
    Genau.
    Ja, ich erinnere mich. War sie nicht Serbin?
    Sie war Jugoslawin, wie wir.
    Ich hab sie sogar mal nackt gesehen, beim Baden im Fluss.
    Ich nie. Erst lernen wir uns angezogen kennen, hat sie gesagt, und wenn wir uns dann noch mögen, lernen wir uns auch nackt kennen.
    Ja, die war clever, die Milena … Durftest du sie anfassen?
    Hin und wieder, aber nur im Dunkeln. Hatte sie die Sommersprossen überall?
    Ich glaube schon.
    Sie hatten in einem ähnlichen Verlies gelegen wie in diesem Augenblick, mit Dutzenden anderen Gefangenen, inmitten von Ratten, Ungeziefer, Ameisen, tagelang. Die einen waren gestorben, die anderen hatten überlebt. Manche waren nach dem Krieg zu ihren Familien zurückgekehrt, manche in leere Häuser.
    Manche kämpften noch immer.
    So war es eben, dachte Jordan.
    Er öffnete die Augen einen Spalt. Obwohl die Beleuchtung des Vorplatzes eingeschaltet war, drang kaum Licht in den Stall. Erst nach einer Weile erkannte er durch die Ritzen der Bodenplanken die Umrisse eines der Holzträger, die den Heuboden abstützten. Mehr war nicht zu sehen.
    Er löste die Finger von Pistole und Messer, um sie zu entspannen. Seit mindestens fünfzig Minuten lagen sie in dem Hohlraum, vielleicht länger, Igor an der Wand, dann, auf dem Bauch, Bachmeier, dann er. Asseln und Spinnen liefen über seine Hände, Ameisen über Hals und Gesicht, unter der Jeans über seine Beine. Gelegentlich hörte er das Trippeln von Ratten oder Mäusen.
    »Irgendwann kommen sie mit Hunden«, sagte Igor.
    »Ich weiß.«
    »Vorher sollten wir verschwinden.«
    »Wir haben eine Geisel.«
    »Vielleicht nicht mehr lange.«
    Igor hatte recht. Bachmeiers Atemzüge waren schwächer geworden, und er gab kaum noch Laute von sich. Er war ein Feind, doch kein Soldat und würde an dem Knebel oder der Erschöpfung oder den Schmerzen sterben, falls sie ihn nicht bald an die frische Luft brachten.
    Die Polizisten hatten den Stall durchsucht, waren keine dreißig Zentimeter über ihnen hin und her gelaufen. Jordan hatte die Augen geschlossen, um sie vor dem Schmutz zu schützen, den die Tritte durch die Ritzen fallen ließen.
    Vor einer Viertelstunde war ein Lieferwagen auf den Hof gefahren. Er hatte das Motorengeräusch wiedererkannt – Gärtnerei Pauli.
    Haben Sie ihn gefunden?, hatte eine Frau gerufen.
    Ein Mann hatte erwidert: Noch nicht. Dann hatte er sich vorgestellt – Lorenz Adamek, Kripo Berlin.
    Ihre Frau und Ihre Tochter sind zurück, hatte Jordan Bachmeier ins Ohr geflüstert.
    Seitdem weinte Bachmeier wieder.
    Kurz darauf hatten der Kleintransporter und vier, fünf weitere Autos den Hof verlassen. Wie viele Polizisten geblieben waren, ließ sich nur vermuten. Adamek und eine Kollegin, Jordan hatte sie sprechen gehört. Dazu ein Polizist, der die Bachmeiers kannte. Vielleicht andere, die sich leise verhielten.
    Sie waren ins Haus gegangen.
    Jordan drehte den Kopf und flüsterte: »Bald sind Ihre Frau und Ihre Tochter allein.«
    Die Antwort war wegen des Knebels kaum zu verstehen: »Der Tommy ist … tot …«
    »Mrtav?« Igors heisere Stimme.
    »Da.« Jordan legte die Hand auf Bachmeiers Schulter. »Tapferer, dummer Mägges. Bist ohne Absicht in den Krieg geraten und musst dafür büßen.«
    »Wenn wir ihn hier rausschaffen, bringe ich ihn zum Reden, Saša. Lange hält er nicht mehr durch.«
    »Zu gefährlich.«
    Mit einer Geisel in Bachmeiers Zustand zu fliehen war unmöglich, selbst in der Dunkelheit. In der Ferne kreisten zwei Hubschrauber, und sie mussten mit Straßensperren und Suchtrupps rechnen.
    »Saša«, flüsterte Igor. »Ich muss hier raus.«
    Jordan nickte. Er hatte damit gerechnet.
    Noch einen Tag, Igor, höchstens zwei … Du hast schon so lange durchgehalten. Denk an Briševo, an deine Frau, als noch alles gut war mit ihr. Erzähl mal, hast du sie auch beim Baden beobachtet?
    »Sieh dich draußen um«, sagte er. »Dann überlegen wir weiter.«
    »Hvala, Saša.« Fast lautlos hob Igor die Holzbohlen an, die sie eine Stunde zuvor aus dem Boden gelöst

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