Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum

Titel: Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
Vom Netzwerk:
Füße, aber er sah nichts, sah niemanden, auf den er sich hätte werfen können, wozu auch, seine Hände waren gefesselt. »Verstehst du denn nicht«, sagte er, und seine Stimme wurde lauter, »Thomas Ćavar ist tot, er ist 1995 in Bosnien gestorben, im Krieg, seine Leiche …«
    »Sprich leise, Verräter!«, zischte Igor dicht neben ihm und stieß seinen Kopf gegen die Wand.
    »… liegt irgendwo metertief unter der Erde in einem Massengrab, sie wird nie gefunden werden …«
    »Auf die Knie.« Igor drückte ihn hinunter, hart schlug ein Pistolenlauf gegen die Seite seines Halses. »Wir hätten längst Schluss machen sollen.«
    »Er existiert seit fünfzehn Jahren nicht mehr«, murmelte Thomas. »Er ist keine Gefahr für dich und deine Armee.«
    »Warum ist er noch am Leben, Saša?«
    Jordan antwortete nicht.
    Zigarettenrauch drang in Thomas’ Nase.
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht wegen seiner Frau und seiner Tochter.«
    »Sie sind nicht hier. Soll ich es tun?«
    »Lass ihn, Igor.«
    »Er muss sterben.«
    »Später. Lass ihn jetzt.«
    Sterben, dachte Thomas.
    In Hamburg hatte er Angst vor dem Tod gehabt, weil er das Leben und das Sterben gesehen hätte. Jordans Gesicht, Jelena, die vertraute Umgebung, die ihm so viel bedeutete und in der auch Lilly war und viele glückliche Jahre. Hier sah er nichts. Nicht Jelena, nicht Jordan, nicht den Tod, und so hatte er keine Angst.
    »Wie ist das, wenn man den Krieg verlässt und nach Hause geht, zu seiner Familie?«, fragte Jordan.
    Seine Stimme war so leise, dass Thomas sie im Glucksen der Waschmaschine kaum hörte.
    Er ließ sich zur Seite sinken. Reden, sterben.
    Er dachte, dass dies alles Teil seines Lebens war. Die Entführung, die Stunden hier, weitere Stunden und vielleicht Tage. Ein anderes Leben gab es nicht, ein Parallelleben, in dem ihm niemand mit dem Tod drohte und nach dem er sich sehnen konnte. Und es war auch kein neues Leben, es gab nicht Thomas’ Leben und dann Ajdins Leben, er hatte sich etwas vorgemacht.
    Es gab nur dieses Leben. Und das meinte es doch gut mit ihm …
    »Vergisst man, was man getan und gesehen hat?«, fragte Jordan.
    »Nein.«
    »Das dachte ich mir. Es kommt einem irgendwie ins Blut, und man wird es nicht mehr los. Egal, wohin man kommt, es ist immer da.«
    »Nicht überall«, sagte Igor.
    »Doch. Weil es nicht in den Orten ist, sondern in einem selbst.«
    »Nicht in Ljubuški.«
    »Auch dort, Igor.«
    »Ljubuški?«, murmelte Thomas.
    »West-Herzegowina«, erwiderte Jordan.
    Thomas dachte an die knotigen Hände von Josip Vrdoljak, die ihm Jugoslawien erklärt hatten und sicherlich auch die West-Herzegowina einzuordnen gewusst hätten. Im November 1991 waren sie für immer erstarrt. Ineinander verschränkt hatten sie auf dem von Motten angefressenen braunen Jackett geruht, manikürt für den Tod. Zum ersten Mal, seit Thomas ihn kannte, hatte Josip nicht nach Lavendel geduftet, sondern nach Seife und Parfüm.
    Mit Vukovar war auch der bärenhafte Mann gefallen, die Nachricht vom Ende der Stadt hatte ihm das Herz zerrissen.
    Wenn du gehst, nimm mich mit, hatte er drei Stunden vor seinem Tod geflüstert.
    Wenige Tage später war Thomas in den Granada gestiegen, um sich den Kämpfern in Kroatien anzuschließen. Hinten, auf der Rückbank, hatte Josip Vrdoljak gesessen, die Hand auf seine Schulter gelegt und die Nationalhymne gesungen.
    »Ich traue ihm nicht, Saša«, sagte Igor plötzlich.
    »Dem Kapetan?«
    «Dem Alten.«
    »Stjepan?«
    »Er wird uns verraten.«

39
    DONNERSTAG, 20. JUNI 1991
    BONN
    Berlin also, dachte Richard Ehringer.
    Aber es war knapp gewesen. Einhundertfünf Redner, eine fast zwölfstündige Debatte, der Ausgang so ungewiss, dass die F.D.P. -Fraktion den Außenminister telefonisch gebeten hatte, im Anschluss an die KSZE -Konferenz nach Bonn zurückzukehren, um vor dem Plenum zu sprechen und mit abzustimmen. Am Ende waren es 338 zu 320 Stimmen gewesen. Gegen 21.45 Uhr war der Antrag »Vollendung der Einheit Deutschlands« angenommen, die Verlegung des Regierungssitzes nach Berlin beschlossen.
    »Am Wochenende schauen wir Wohnungen an«, sagte Margaret. »Erst mal Charlottenburg oder Zehlendorf, da können wir uns akklimatisieren. Dann wohnen wir uns alle zwei, drei Jahre tiefer ins Herz der Stadt vor.«
    »Schlägt das nicht wöchentlich woanders?«
    »Das ist ja das Faszinierende.«
    Halb elf Uhr nachts, sie saßen im Taxi, unterwegs zum »Alten Treppchen« im Stadtteil Endenich. Die Berlin-Fans wollten

Weitere Kostenlose Bücher