Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Verzweiflung in seinen Augen.
Thomas war am 2. Mai 1995 wieder nach Kroatien gefahren. Die Krajina-Serben hatten Raketen auf Zagreb abgeschossen, als Vergeltung fand die Operation »Blitz« statt, die kroatische Armee griff dabei auch zwei UNO -Schutzzonen an. Fünfzehntausend serbische Zivilisten flohen nach Bosnien. Einen Tag später war die Aktion beendet, doch Thomas blieb. Gerüchte besagten, dass weitere Offensiven bevorstünden. In Bosnien eskalierte die Lage. Die bosnischen Serben stahlen UNO -Waffen, die NATO bombardierte Munitionsdepots, UN -Soldaten gerieten in serbische Gefangenschaft, Schutzzonen fielen. Der Einsatz amerikanischer Bodentruppen stand bevor, die Serben widerriefen alle Abkommen mit der UNO , NATO -Verbände sammelten sich in der Adria, und die Kroaten planten die Rückeroberung der Krajina, unterstützt von amerikanischen Militärs.
»Er wollte dort sein«, sagte Milo, »die Befreiung der Heimat miterleben. Das Ende.«
»Er hatte noch nicht genug?«, fragte Adamek.
»Ach, ich glaube schon. Aber er hatte Jelena verloren.«
Zwei Jahre lang hatte Jelena Thomas’ Ausflüge in den Krieg ertragen, die Angst, den Zorn, die Unsicherheit. Dann hatte sie ihn vor die Wahl gestellt – der Krieg oder sie.
Er bekam einen Anruf, stieg in sein Auto, fuhr hinunter. Als er zurückkehrte, war sie fort.
»Wann war das?«, fragte Schneider.
»Im Herbst 1993.«
»Die Medak-Offensive?«
»Sie sind gut informiert.«
Sie winkte ab. »Ich habe gelesen, statt zu schlafen.«
Die Kroatische Armee, erklärte Milo Adamek, hatte bei der Operation »Medak« ein paar Quadratkilometer Krajina zurückerobert. Auf internationalen Druck hin musste das Gebiet jedoch wieder aufgegeben werden. Später wurde bewiesen, dass die Soldaten Kriegsverbrechen gegen die serbische Bevölkerung begangen hatten. Gerichte verurteilten ihren Kommandeur, Mirko Norac, wegen verschiedener Kriegsverbrechen unter anderem bei »Medak« zu langjährigen Haftstrafen.
»Jelena«, sagte Adamek, »wohin ist sie damals gegangen?«
»Nach Hamburg.« Milo schneuzte sich, räusperte sich. »Sie hat dort weiterstudiert. Niemand wusste Bescheid, ich auch nicht, nur ihre Eltern, und die durften es niemandem sagen. Monatelang hat Tommy die beiden belagert, jeden Tag ist er zu ihnen gegangen, hat Botschaften für sie hinterlassen, hat ihnen Briefe an Jelena gebracht. Aber was sie hören wollte, konnte er nicht sagen, er war noch nicht so weit, eigentlich weniger denn je, paradoxerweise, ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen, aber …
Dadurch, dass er Jelena verloren hatte, hat er sich Kroatien noch mehr verbunden gefühlt. Er wollte nicht auch noch seine – Milo setzte Anführungszeichen in die Luft – ›Heimat‹ verlieren. Außerdem hätte er das Gefühl gehabt, Kroatien im Stich zu lassen. Er fühlte sich … wie soll ich das erklären … angenommen, wissen Sie? Als hätte ihn die neue Heimat als Sohn angenommen, weil er für sie so viel aufs Spiel gesetzt hat. Er wurde Kroate, weil er nachts ins Auto gestiegen ist und alles zurückgelassen hat und runtergefahren ist, um Kroatiens Feinde zu bekämpfen. Er hätte die Zugehörigkeit zu seiner neuen Heimat wieder verloren, wenn er das nicht mehr getan hätte. Jelena hat das, glaube ich, verstanden, deshalb hat sie das alles so lange mitgemacht.«
Im Raum über ihnen klingelte gedämpft ein Wecker. Milo warf einen Blick auf die Küchenuhr, mit ihm Adamek. Es war halb sieben. Vor dem Fenster lag ein lichtes Grau, in dem Sonne zu erahnen war, ein milder Tag im süddeutschen Herbst.
Der Wecker verstummte.
Milo schenkte Kaffee nach, Schneider aß Obst, Adamek wartete. Das Nachdenken fiel ihm schwer, die Müdigkeit war übermächtig.
Der Hamburger Kollege rief an, Hassforther. Sie hatten eine Spur – ein Wagen mit der Aufschrift »Caritas-Zentrum Rottweil«, der in St. Georg abgestellt worden war. Nicht weit davon entfernt war ein schwarzer Fiat Bravo gestohlen worden – und ein schwarzer Bravo war von einem Hundehalter vor dem Haus der Imamović’ gesehen worden.
»Du hörst von mir«, sagte Hassforther.
»Danke«, sagte Adamek.
Er gab die Informationen weiter.
»Caritas.« Schneider lachte ungläubig.
Sie stand auf, um zu telefonieren.
In Rottweil war kein Caritas-Auto gestohlen worden.
»Überprüft die Werkstätten«, sagte sie ins Handy, »jeden Kroaten im Landkreis, der irgendwas mit Autos zu tun hat.« Sie legte das Telefon auf den Tisch. »Wartet bitte«, sagte sie
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