Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
feiern.
Ehringer wäre gern in Bonn geblieben. Berlin war nicht nur eine Stadt, es war der deutsche Bazillus Großmannsucht in der Kleingeisterei, der sich irgendwann unweigerlich in den Blutbahnen der bundesrepublikanischen Politik verbreiten würde.
Berlin, das Herz der deutschen Finsternis.
Doch die ruhigen Jahre waren ohnehin vorbei. Das politische Bonn ächzte vor Erschöpfung –Wiedervereinigung, erste gesamtdeutsche Bundestagswahl, Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, Golfkrieg, Zerfall der Sowjetunion, am Ostermontag die Ermordung des Treuhand-Chefs Rohwedder. Kaum einer hatte die Kraft, sich auch noch mit der Balkankrise auseinanderzusetzen. Immerhin hatte man im Auswärtigen Amt eingesehen, dass Südosteuropa ein eigenes Referat benötigte, wenn es schon den Krieg nach Europa zurückbrachte. Seit Mitte Mai gab es das Referat 215, und er leitete es.
Jugoslawien im AA , das war nun er.
Er drohte am Einfachsten zu scheitern. Nicht genug Personal, zu kleines Budget, mangelhafte Ausstattung der Büros, die Sekretärin ging um halb fünf. Wer abends etwas zu diktieren hatte, musste sich in anderen Abteilungen auf die Suche nach einer freundlichen Schreibseele machen, die nicht überlastet war.
Er arbeitete länger, schwitzte stärker, schlief schlechter. Von allen Seiten beobachtete man ihn. Er war nicht mehr Stellvertreter, sondern Referatsleiter mit hochexplosivem Aufgabenbereich. Politisch besaß seine Abteilung keinen Einfluss, lieferte lediglich Informationen und Analysen, doch galt er jetzt naturgemäß als der Jugoslawienexperte im Auswärtigen Amt. Was weniger an seiner Kompetenz als daran lag, dass kaum einer im Lande die Ereignisse auf dem Balkan verstand.
Dafür atmete er Tag für Tag Gipfelluft: Über ihm nur noch der Leiter der Unterabteilung 21, der Politischen Abteilung 2, der Staatssekretär, dann kam schon der Minister.
Margaret war begeistert. Weiter so, Vortragender Legationsrat Erster Klasse, zum Staatssekretär schaffen wir es auch noch!
Ihre eigenen Ambitionen hatte sie begraben. Sie sei zu kompliziert und daher nicht kompatibel, hatte sie vor wenigen Wochen gesagt.
Ehringer dachte häufig an diesen Satz, und ganz allmählich begann er dessen tiefere Bedeutung zu erahnen: Ich bin mit dieser Welt nicht kompatibel. Mit sozialen Strukturen. Mit Menschen.
Mit mir.
Das Taxi hielt vor dem »Alten Treppchen«. Sie stiegen aus, gingen die drei Stufen hoch, tauchten in Gelächter und laute Stimmen ein. Jemand hatte das ganze Lokal reservieren lassen, wer, war Ehringer nicht klar. Viele Rote, viele Gelbe, beim Feiern kam man nach wie vor gern zusammen. Dunkle Holzmöblierung nach traditioneller Art, alle Stühle und Bänke besetzt, in den ohnehin schmalen Gängen kaum ein Durchkommen. Später, hieß es, werde auch Genscher vorbeischauen.
Sie grüßten hier, grüßten dort, Margaret lachte wie lange nicht mehr. Sie hielt ein Glas Sekt in der Hand, das drei Meter später leer war und durch ein volles ersetzt wurde. Ehringer bemerkte die distanzierten Blicke, die sie streiften, sie war zum Dorn in der jugoslawischen Wunde des politischen Leibes geworden. Während sich landauf, landab Minister, Abgeordnete, Diplomaten, politische Beamte um eine Haltung zur Jugoslawienkrise bemühten und für jede Vereinfachung, jede Orientierungshilfe dankbar waren, kam Margaret mit immer neuen, irritierenden Informationen aus dubiosen Quellen, die wieder alles auf den Kopf zu stellen schienen.
Borovo Selo eine unentschuldbare Aggression der Serben?
Ja wisst ihr denn nicht, dass es ein Abkommen zwischen den lokalen Behörden gegeben hat, demzufolge kroatische Polizisten den Ort nicht ohne Einverständnis der serbischen Behörden betreten durften? Dass die jugoslawische Regierung die Morde verurteilt hat? Und kennt ihr nicht die Vorgeschichte? Habt ihr nicht von Josip Reihl-Kir gehört, dem Polizeichef von Osijek, einem Kroaten slowenisch-deutscher Abstammung, der seit Wochen zwischen den Serben und den Kroaten Slawoniens vermittelt und von den Hardlinern beider Seiten boykottiert wird? Wisst ihr nicht, dass Reihl-Kir den Tuđman-Vertrauten Gojko Šušak, einst Pizzeria-Besitzer in Kanada, jetzt Immigrationsminister, und andere HDZ -Extremisten in einer Nacht Mitte April zum Ortsrand von Borovo Selo führen musste, wo Šušak und dessen Kumpels dann drei Granaten aus Raketenwerfen abgefeuert haben? Dass sie lediglich eine Hauswand getroffen haben, ein Blindgänger aber im serbischen Fernsehen gezeigt
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