Der Kalte
erschrecken. Mitten in Europa, bei diesen unbelehrbaren Alpenbewohnern, wird ein möglicher Nazitäter zum begeistert gewählten ersten Mann im Staat. Abi Meyer kam auf die Idee, den Doktor Wais für die Watchlist vorzuschlagen, sodass Wais nicht in die USA hätte einreisen dürfen. Für diese Maßnahme konnte sich der amerikanische Präsident nicht erwärmen. Tschonkovits hätte es schon gefallen, wenn die amerikanische Regierung sich noch im hiesigen Wahlkampf entschlossen hätte, solch einen drastischen Schritt zu setzen, aber Marits wäre entsetzt gewesen, und so bremste Tschonkovits Meyers Idee im Vorfeld. Es war dem Zauberer klar, dass er mit dieser Linie viel aufs Spiel setzte. Im Grunde, das musste Johannes sich selbst zuflüstern, war ihm die Punzierung des Wais als Prototyp des gelernten und vergesslichen Österreichers wichtiger als ein Wahlsieg. Würden aber die Wähler den Punzierten wegen dieser Punze nicht wählen, hätte die Demokratie hierzulande einen großen Sieg errungen. Tschonkovits wusste, dass dieses Land noch lange nicht so weit war, und ohne es sich in ganzer Klarheit einzugestehen, nahm er billigend in Kauf, dass Österreich in Geiselhaft des kleinen Leutnants geriet.
Für die Sozialdemokratie war die Sache ganz anders. Sie hatte eine Menge Prestige verloren. Der Machtverlust, der seit dem Rücktritt des Sonnenkönigs begonnen hatte, wurde größer und größer und begann die sozialdemokratische Moral zu erodieren. Wirtschaftliche Schwierigkeiten in den Problemregionen mit steigender Arbeitslosigkeit ließen an
der ökonomischen Kompetenz der Partei zweifeln. Der nicht durchgesetzte Kraftwerkbau in der Stopfenreuther Au machte den Bundeskanzler Marits in den Augen vieler zum Weichei, auch bei den eigenen Leuten in den Gewerkschaften. Und nun ein antifaschistischer Wahlkampf inmitten eines Volkes, das gar nicht antifaschistisch aufgelegt war, sondern mit dem ganzen vergangenen Budenzauber in Ruhe gelassen werden wollte. Die sogenannten Granden waren verärgert, erzürnt, verdrossen, frustriert und bündelten diese Gefühlsgemengelage auf die Person des Johannes Tschonkovits. Der war es, der die Zugänge zum Kanzler verstopfte, der auf unverschämte und parteiferne Weise seine Fäden zog, während Theodor Marits, verdienstvoll und ungeschickt, integer und verzaudert, ein treuer Sozialdemokrat in den Händen eines Spielers geblieben war.
Fritz Habitzl, der selbst aus einem antifaschistischen und sogar kommunistischen Haus stammte, erkannte schon früh das Verhängnisvolle dieses Kurses. Obwohl er in der Regierung als Finanzminister eine machtvolle Position innehatte, kam er an den Burgenländer nie so richtig heran. Der krank und kranker werdende Sonnenkönig hatte sich nach Marits' Rücktritt sofort für Habitzl stark gemacht. Womöglich hatte er ihm in einem von den Parteigranden nicht wahrgenommenen Augenblick zugezwinkert, und Habitzl nutzte diesen Moment sofort und präsentierte sich als seriöse und kompetente Kanzlerkraft. Marits schätzte Habitzl und schlug ihn ohneweiters als seinen Nachfolger vor. Er freute sich wie ein Schmerzpatient aufs Morphium, als Habitzl sofort zustimmte. Bevor das Parteipräsidium dazu kam, einen klaren Gedanken zu fassen, musste es den Finanzminister zum neuen Bundeskanzler designieren.
Tschonkovits räumte am Montag nach der Wahl im Bundeskanzleramt sein Zimmer auf. Er entfernte seine Ordner, Regine lief hin und her. Er sortierte, er ging nicht zum Telefon, er pfiff vor sich hin, er machte sich noch keine Sorgen. Am frühen Nachmittag kündigte Regine plötzlich Wendelin Katzenbeißer an.
»Der Schleicher hat mir heute gefehlt«, sagte er zur Sekretärin. »Herein mit ihm!«
Katzenbeißer trat ein, ging auf Tschonkovits zu und sagte ihm lächelnd:
»Das Spiel ist aus.«
»Du folgst mir nach?«
»Ich bin schon da.«
»Jetzt haben sie den Juden gefunden. Ich bin an allem schuld.«
Tschonkovits saß am übernächsten Tag im Dienstzimmer von Roman Apolloner. Er hatte ihn frühmorgens angerufen, ihm vom Telefonterror berichtet, der ihn praktisch ab Verkündung des Endergebnisses heimgesucht hatte. In der Parteizentrale Löwelstraße wurde er von niemandem gegrüßt. Zu den Gremien, die seit dem Nachmittag tagten, war er ohnedies nicht mehr hinzugezogen worden. Er hatte den Hörer neben den Apparat gelegt, sodass ihn Theodor Marits, falls er ihn sprechen wollte, nicht erreichen konnte. Er war dabei, sein zweites Zimmer zu räumen. Auch hier in der
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