Der Kalte
ich.« Er riss die Tür auf.
»Willst du dich nicht verabschieden?«, fragte Roman und reichte ihm die Hand. Johannes nahm sie, klopfte Roman auf die Schulter, Roman tat desgleichen bei Johannes, und schließlich umarmten sie sich. Judith ging vorbei und blieb stehen.
»Nanu?« Tschonkovits gab ihr die Hand. »Bin im Gehen. Alles Gute euch.« Er marschierte um die Ecke zum Aufzug.
Judith sah Roman an.
»Den sind wir los«, sagte er und ging in sein Zimmer zurück. Judith zögerte einen Moment, dann ging sie in ihres.
36.
(Aus dem Tagebuch des jungen Keyntz)
27. 6. 1986
Fräulein Dolores Segal hat sich von mir getrennt. Vor vier Tagen ist sie wieder in der Schule aufgetaucht. Ich habe sie gefragt, warum und weshalb, sie hat mich ins Café Grillparzer bestellt. Während des Unterrichts hat sie mich von Zeit zu Zeit heimlich beobachten wollen, aber ich habs bemerkt, wie sie immer wieder blitzschnell hergeschaut hat. Was sollte der Tanz bedeuten? Ich hatte keinen Schimmer, was mich im Grillparzer erwartete. Da sagt mir Fräulein Segal doch tatsächlich ins Gesicht, sie trennt sich jetzt von mir, weil sie sich von Österreich trennt und von den Österreichern und nach Etzel oder Erpel oder Eretz Israel abdampft mitsamt ihrer Mischpoche. Das ist doch die Höhe. Ich war so zornig, dass ich sie angeschrien hab. Daraufhin hat mich der Ober aus dem Café gerempelt. Ich habe dann gewartet, hab mich versteckt und ihr aufgelauert. Sie ist weinend neben mir her zu sich nach Hause gegangen, ich habe sie ständig gefragt, warum und wieso, und mich entschuldigt. Sie hat mit Weinen geantwortet. Vor dem Haus ist plötzlich der alte Segal herausgekommen, hat die Dolly umarmt und mich mit einer Kopfbewegung weggeschickt. Sie ist nicht mehr in der Schule erschienen, morgen ist der letzte Schultag. Werde ich sie jemals wiedersehen?
Heute hat mir der Tschurtschi erklärt, die Dolly ist eine jüdische Prinzessin und lässt sich nicht mit Gojim ein. Es stellte sich heraus, dass seine große Schwester mit einem Juden, einem Medizinstudenten, zusammen war. Der hat von ihr verlangt, zum Judentum überzutreten. Das hat seine Schwester lachhaft gefunden. Daraufhin hat er sie stehenlassen. So sind die alle.
Ich kann das nicht glauben. Ich liebe sie. Sie liebt mich genauso. Das gibts nicht.
29. 6.
Vorhin rief der alte Segal an und weckte mich. Ich war total verschlafen, obwohl es schon Mittag war. Hab einen schweren Traum gehabt, der noch irgendwie nachwirkte, weil ich ihn kaum verstehen konnte. Segal hat mich gefragt, ob ich betrunken bin, und ich habe gesagt: sehr. Dann hat er mir eingeschärft, um zwei im Café Billroth auf ihn zu warten. Er hätte mir was Wichtiges mitzuteilen.
Abends.
Ich bin traurig. Ich kanns gar nicht ausdrücken. Ich versuche meinem Tagebuch klarzumachen, was ich selbst nicht verstehe. Der Architekt Ernst Segal teilt dem Schüler Stefan Keyntz mit, dass seine Tochter Dolores Segal ihre von ihm ursprünglich gutgeheißene Beziehung beenden muss, weil er, der Vater, beschlossen hat, wegen der Wahl des Johann Wais nach Israel auszuwandern. Er ist mit seiner Familie übereingekommen, so gewählt hat er sich ausgedrückt, seine Tochter aus der Schule zu nehmen. Sie werde in Israel an einer internationalen Schule maturieren und dort bleiben und studieren. Er selber könne in Israel genauso gut oder sogar besser arbeiten als hier. Es hat sich gezeigt, erklärte er mir, dass Juden in Österreich nicht in Ruhe leben können. In Israel zwar auch nicht, hat er wie im Scherz mit finsterem Gesicht gemeint, aber das ist wenigstens unser eigenes Land. In Österreich sind wir bloß toleriert, sagte er; wann immer es den Österreichern passt, könnten sie unsereinen hinauswerfen, wie es schon oft in der Geschichte vorgekommen ist.
Ich habe ihn gefragt, ob Dolly das auch will, was er be
schlossen hat. Sie wird einsehen, sagte er, dass es das Beste für alle ist. Ich sagte ihm, für mich ists das Schlechteste. Ich verstehe nicht, sagte ich ihm, wieso die Wahl irgendeines unwichtigen Typen, der in Österreich so gut wie keine Macht hat, unsere Beziehung zerstören kann. Ich habe mich sogar getraut, ihn zu fragen, ob er sich sicher ist, dass alles mit ihm in Ordnung ist. Ich bin nicht verrückt, hat er mir ganz ernst geantwortet. Das heißt, wir leben in einer verrückten Welt. Ich habe ihn angefleht, er soll mir die Dolly, wenn sie das will, dalassen, sie könnte bei mir wohnen. Er hat mich stumm angeschaut und den Kopf
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