Der Kalte
Begräbnisteilnehmer ein Teil meiner Familie geworden. Sie ist neben mir und noch vor Onkel Alois und Tante Beatrix gestanden, noch vor der Cousine Lydia und den beiden Vettern Karl und Toni. Mutter hat nicht einen Blick auf sie geworfen, aber sie hat überhaupt kaum wen gesehen, auch wenn sie alle begrüßt und das Beileid entgegengenommen hat. Mich hatte sie, glaube ich, mehr neben sich geahnt, von Zeit zu Zeit hat sie mich an der Schulter gehalten, dabei aber in sich hineingesehen oder irgendwo hinauf.
Bei Margits Begräbnis ist Dolores Segal meine Verlobte geworden, wir haben das gespürt. Auf einmal stand eine hagere, graue ältere Frau vor mir. »Ich war die Chefin Ihrer Schwester, Inge Haller. Herzliches Beileid«, sagte sie zu mir. Daneben ihr Freund oder Mann, wie ich im ersten Moment dachte, der sagte: »Messerschmidt, Beileid«, da schoss es mir ein, dass das der vergebliche Künftige von Margit war. Beide sahen derart todtraurig aus, als wäre ihnen die eigene Tochter oder Geliebte gestorben. Auch der Dolly gaben sie die Hand und gingen gebückt davon.
Beim Leichenschmaus gings ganz fröhlich weiter, die Leute scherzten miteinander und waren wie erlöst vom Zwang, traurig zu sein. Dolly wollte weg, aber ich bat sie, neben mir zu bleiben, wenn schon, denn schon.
Margit ist nicht mehr. Und ich zieh in ihre Wohnung in die Hardtgasse. Mutter wird allein in der Schleifmühle bleiben. Sie ist eh allein, was immer man auch für sie machen tät.
2.
Astrid von Gehlen saß beim Frühstück, ihr gegenüber der mürrisch gewordene Felix Dauendin, der nach wochenlangem Spitalaufenthalt, nach drei Operationen, die durchaus nicht zufriedenstellend verlaufen waren, sich zunehmend mit seinem Altern konfrontiert sah und diesem Prozess keinerlei angenehme Gefühle abzugewinnen vermochte. Neben dem Frühstückstisch lehnten die Krücken, und ihm gegenüber seine strahlend schöne Lebenspartnerin, die sich in dem Maße verjüngte, in dem er alterte, so kam es ihm vor. Er las in der Zeitung und hörte mit halbem Ohr zu, da Astrid vom ersten Probentag berichtete, den sie mit dem aus Hamburg angereisten Regisseur Peter Adel so erfolgreich hinter sich gebracht hatte. Seit Wochen hatte sie sich mit der Figur der Phädra auseinandergesetzt, in den alten Mythen gelesen und sich die Teile aus ihrem Gefühlshaushalt zurechtgelegt, mit denen die Racine'sche Phèdre ummantelt werden könnte.
»Was sagst denn du dazu«, knurrte Dauendin, »dass Adel nicht deinen Fraul, sondern den Bastian mit dem Hippolyt besetzt hat?«
»Bastian ist okay«, antwortete sie, stand auf, ging zum Teetisch und entnahm dem darauf liegenden Etui eine Zigarette. Dauendin rappelte sich hoch, ergriff die Krücken, ging an ihr vorbei und ins Bad.
Adel nahm den alten Bonker mit Handkuss. Der entwickelte einen Lear-artigen Theseus. Für die schöne Aricia fand Adel wenig überraschend die Tochter seiner Lebensgefährtin, die wunderbar begabte Katharina Dronte. Es war für Astrid eine Auszeichnung, bei Adel die Phèdre geben zu dürfen und dass er sogar ihretwegen das Stück überhaupt inszenieren wollte. Gewöhnlich suchte er sich seine Schauspieler, mit denen er seit Jahr und Tag an den verschiedenen Bühnen arbeitete, auch von überallher zusammen und nahm keine Rücksicht auf Hausbesetzungswünsche. Schönn hatte sich nicht eingemischt, das ging bei Adel auch gar nicht. Aber alle dachten, Fraul käme nun auch bei Peter Adel zum Zug und nicht der etwas blasse Gruber.
Astrid blieb beim Tisch sitzen und rauchte, schaute den Rauchkringeln hinterher, versank langsam im Universum der alternden Frau, die in ihr umging und auch einen Schatten auf ihre Liebe zu Karl zu werfen begann. Undeutlich hörte sie draußen Felix herumkramen, doch auch die Geräusche entfernten sich, je mehr sie mit sich ins Meditieren geriet.
Schon in Venedig im Marco Polo war eines Nachmittags, als Astrid im Racine gelesen hatte, während es draußen regnete, Phädra auf ihrer Bettkante gesessen, bepackt mit der Bitternis der Jahrhunderte, denn so lange litt sie an der ihr einst zugefügten Zurückweisung, und so lange konnte sie nicht mehr altern bis zu jenem Moment, als sie jung genug für das Begehren und bereits zu alt für das Erhalten des Begehrens war. Ob in der Gestalt, wie Euripides sie heraufbrachte, oder jetzt im Hotelzimmer in Venedig in Racines Erzählung, sie saß hier mit dem scharfen Profil, dem eingemeißelten Blick, denn so musste sich ihr Blick
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