Der Kalte
nach einem Parkplatz Ausschau hielt. Wozu bin ich denn da? Immer Herzerkrankungen und auf sie hoffen, damit ich eine Daseinsberechtigung habe? Erinnerungen an ihre Kindheit fuhren wie von einer Windböe angetauchte Nebelfetzen durch sie durch. Die
Schule Sacre Cœur, der Verkehrstod der Eltern, die Hilflosigkeit und Demütigung in den Büschen der Lobau an jenem ersten August damals, und wie Egon Haller sie tröstete. Die Heirat, sein früher Herztod, all das ging ihr durch den Sinn, und dann stand sie in der Tür von Margits Zimmer.
Margit war auf, saß im Sessel und lächelte ihr entgegen. Da wurde es der Inge so süß, dass sie zu ihr lief und sie fest umarmte. Margit legte wohl ihre Arme um sie, schloss sie aber nicht, ließ sie links und rechts von Inges Schultern Richtung Tür ragen.
»Du bist mir so wichtig geworden«, sagte Inge.
Margit senkte ihren Kopf und legte das Gesicht an Inges Brustkorb, flüsterte etwas.
»Was sagst du, Liebes?«
»Karel.«
Inge hielt den Atem an, nahm mit beiden Händen Margits Kopf und schaute ihr in die Augen. Dann legte sie ihre Lippen auf die Lippen von Margit. Dabei spürte sie, wie ihr die Tränen aufstiegen. Margit löste sich.
»Karel«, wiederholte sie mit klarer Stimme. Sie blickte wehmütig ins Gesicht der Oberärztin, dann ergriff sie ihre Hand und biss hinein. Inge ließ es zu, stand da, das Wasser in den Augen.
»Fester«, flüsterte sie, fuhr mit der anderen Hand zu Margits Hinterkopf und drückte sacht.
Margit tat die Zähne auseinander und gab die Hand frei. Sie drehte sich weg, ging zum Fenster.
»Geh fort!«
Als Inge auf sie zukam, schrie sie, ohne sich umzudrehen. »Greif mich nicht an. Geh doch! Hilfe. Hilfe.«
»Aber Liebes, ich tu dir doch nichts. Beruhig dich.«
Die Tür ging auf. Eine Schwester kam herein, warf einen Blick auf die beiden und lief um Verstärkung.
Zweites Kapitel
(Na und)
1.
(Aus dem Tagebuch des jungen Keyntz)
11. 3. 1986
Ein Loch von über zwei Monaten im Tagebuch. Der Selbstmord meiner Schwester in der Silvesternacht. Ich hab nichts mehr notieren können. Obwohl das wirklich geschehen ist, hab ich nichts darüber geschrieben, als ob es damit nicht passiert wäre.
Margit hat in den letzten Tagen mit allen zu streiten angefangen. Einerseits ist sie reglos in ihrem Sessel gesessen in der Bernerklinik, andrerseits hat sie mit uns nicht reden können, sondern bloß schreien. Mit Mutter hat sie geschrien, solang sie bei ihr war, oder sie hat geschwiegen. Mich hat sie ständig bloß angelächelt, ist mir dauernd in die Haare gefahren. Ich glaub, sie hat mich in ihrem Irrsinn für einen Achtjährigen gehalten. Einmal hat sie mit mir von Puchenstuben zu reden begonnen, damals war ich vielleicht fünf. »Es war so viel Schnee in Puchenstuben. Ich hab dir ein Tunell gegraben mit Vati, und du bist den ganzen Tag durch den Schnee gekrochen. Das war schön.« Ständig hat sie mich Stefferl genannt, obwohl sie mich, als sie noch gesund war, nie so geheißen hat. Manchmal ist sie beim Fenster ihres Krankenzimmers auf einem Fuß gestanden. »So stehst du am sichersten«, hat sie gesagt und mich angelächelt. Kaum ist Mutter dazugekommen, hat sie losgebrüllt, bis das Pflegepersonal da war. Dann hat sie abrupt aufgehört, hat sich mit dem Rücken zu allen hingestellt und gewartet, bis man sie genommen hat, ihr eine Spritze gegeben hat, und dann wars eh aus mit irgendeiner Verständigung.
Einmal, das letzte Mal, war ich mit Dolly bei ihr. Dolly wollte unbedingt einmal mitkommen, aber mir war das gar nicht recht. Warum muss sie meine durchgeknallte Schwester anglotzen? Aber Dolly hat gesagt, jeder kann einmal durchknallen, und das wäre noch schöner, wenn sich alle abseilen, wenn einer durchknallt. Ich hab ihr gesagt, wenn ihr Vater durchknallt, dann soll sie sich um ihn kümmern, aber ihr wärs auch nicht recht, wenn ich zu ihm in den Gugelhupf kommen und ihn anschauen tät. Du würdest doch nicht seinetwegen mitgehen, sondern meinetwegen, hat sie darauf gesagt. Ich hab mich schnell umgedreht, damit sie nichts merkt, zu blöd. Also ist sie wegen mir mitgekommen. Ich habe der Margit gesagt, das ist Dolores Segal. Auf das hinauf ist die Margit der Dolly in die Arme gelaufen, hat sie fest gedrückt, sodass die Dolly ganz rot im Gesicht geworden ist. Dann hat Margit begonnen, der Dolly ins Ohr zu wispern. Meine Mutter ist bei diesem Besuch vor der Tür geblieben, denn ich wollte nicht, dass die Dolly bloß eine Schreiende zu sehen
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