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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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die Tuchlauben kam, brach die Sonne durch, und der Wind hörte auf. Er sah die Häuserfassaden hoch. In ihm war es nach dem Lärm der Nacht still geworden, sodass er sogar Vogelgezwitscher vernahm. Er betrat das Café Korb, wie des Öfteren in den letzten Wochen. Es war neun Uhr morgens, er bestellte sich zwei Eier im Glas und dazu eine Melange und ging sich Zeitungen holen. Er stapelte sie auf den Sessel neben sich. Erst jetzt, nachdem er sich bereits hingesetzt hatte, legte er den Mantel ab, stand wieder auf, hängte ihn an den Haken und den Hut dazu.
    Nacheinander begann er die Zeitungen zu lesen. Nach
zwanzig Minuten sah er, dass seine Frau draußen vorüberging. Sie blickte herein, hob etwas den Arm und ging weiter. Fraul bestellte eine zweite Melange und las den Aufmacher im Signal über Johann Wais' aufgefundene Stammkarte der deutschen Wehrmacht. Das wird den Kerl freuen, dachte Fraul und betrachtete ein Foto, das den Präsidentschaftskandidaten als hochgeschossenen jungen Leutnant irgendwo am Balkan zeigte. Von draußen kam die Lyrikerin Paula Grünhut herein. Fraul bemerkte, dass sie diesmal auch einen grünen Hut trug.
    »Grüß Sie«, sagte sie, sah, was er las, runzelte die Stirn und setzte sich an den Tisch daneben.
    »Grüße Sie«, sagte er und las weiter. Als er zu Ende war mit dem Artikel, gab er ihr die Zeitschrift. »Bemerkenswert. Wollen Sie lesen?«
    »Was bleibt mir übrig«, lächelte sie. »Danke.«
    Während sie las und von Zeit zu Zeit durch die Nase schniefte, schaute er aus dem Fenster. Nachdem sie den Artikel fertig gelesen hatte, redeten sie etwas, er zahlte und ging zur Nationalbibliothek, ließ sich dort alte Zeitungen bringen. Er begann nachzusehen, was sie über den Prozess gegen den »Schädelknacker« Anton Egger berichtet hatten. Mittags verließ er die Bibliothek, ging an der Buchhandlung Sillinger vorbei, und entlang des Donaukanals näherte er sich dem Praterer.
     
    Trotz des kalten Windes hatte sich Wilhelm Rosinger an seinen Fensterplatz begeben, um von dort erstmals nach einigen Wochen wiederum seine Gasse zu inspizieren. Er hatte seit dem missglückten Weihnachtsessen bei seiner Schwester Agnes den Kontakt zu ihr nicht abgebrochen, aber vermieden. Sie hatte zur Weihnachtsgans neue Freunde mit eingeladen, die allesamt begeisterte Anhänger des
Jupp Toplitzer waren, der unverhohlen an die Spitze der Freiheitlichen drängte. Sie alle erwiesen dem Rosinger den Respekt, den er nicht haben wollte, gegen den er sich aber auch nicht zur Wehr setzen konnte. Es wurden zwar seine Tätigkeiten in Auschwitz nicht erwähnt, aber sie wussten davon und benahmen sich danach. Die Art und Weise, wie diese nationalen Altspatzen beim Ganslessen den liberalen und opportunistischen Kurs des bisherigen FPÖ -Führers abkanzelten, war dem Rosinger unbehaglich. Jede ausländerfeindliche Bemerkung wurde mit einem Blick auf ihn gleichsam beglaubigt. Agnes zeigte sich einverstanden und selig mit diesen neuen Bekannten. Als schließlich beim Wein die Stimmung Gesang und Gegröle hervorrief und Rosinger sich selbst das Horst-Wessel-Lied mitsingen hörte, musste er jäh die Toilette aufsuchen. Dort erbrach er das Gansl in großen Stücken. Als er zurückgekehrt war, sagte er: »Schluss. Jetzt ist Schluss.« Als ihn Agnes' Gäste verwundert anstierten, drehte er sich um, schmiss die Eingangstür zu und schwankte hinüber in seine Wohnung. Sie rief ihn besorgt an, und er sagte: »Schluss, Agnes, Schluss.«
    In den folgenden Wochen drehte er wieder für einen kranken Kollegen seine Runden in diversen Fabrikgebäuden, las auf der Couch im Allan-Wilton-Heft, ging donnerstagmittags zum Praterer, sonst ins Hörndl, ohne aber da oder dort Edmund Fraul vorzufinden.
    Heute war er bereits nach zwei Stunden Schlaf wach geworden. Die Geologengasse duftete schon etwas nach Frühling, er legte sich den Polster zurecht, nahm »Reise ohne Rückkehr« von Jules Charpentier zur Hand und vertiefte sich darin. Von Zeit zu Zeit schaute er nach unten. Gegen elf läutete sein Telefon. Mit dem Finger fuhr er noch eilig die Zeilen entlang: »Peter Crosset und sein Bruder Cyril wurden zum
Tod verurteilt und mussten auf die Falltür gehen. Und der Mörder benahm sich, als es zu sterben hieß, nicht anders als die vielen Opfer, die er zu Tode gequält hatte. Er schrie und brüllte und tobte und winselte um Gnade. Erst der Henkersstrick würgte seine Schreie ab.« Rosinger klappte den Allan Wilton zu und ging zum Apparat.
    »Alles

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