Der Kalte
Mal überhaupt in Venedig. Es ist ein bisschen heruntergekommen, oder meine Ansprüche sind gestiegen, aber es ist mir recht. Ich werde hier gar nichts tun als herumlaufen, essen und trinken und etwas in der Phädra lesen. Ich finde es schön, dass wir heimlich hier sind, das macht es für mich ein bisschen dreckig, zugleich will ich doch nicht als Künftige von ihm gelten. Ich bin sicher, das geht schnell vorüber, ich kenne mich, und Karel ist auch gar nicht passend mit seiner Testosteronegomanie. Bevor mich der auswringt, möchte ich ihm Tschüss sagen, wenn ichs will. Doch jetzt hier Weihnachten in Venezia mache ich mir eine verschwiegene Insel aus der Stadt. Am besten wäre es, wir gingen überhaupt wenig weg, denn auf Garantie läuft mir einer über den Weg und sieht mich mit dem Fraul …
»Komm schon.«
Gegen meinen Vorsatz gingen wir nachher schnurstracks ins Florian, aber es war keiner da, der mich erkannt hat, wenigstens habe ich nichts bemerkt. Wir saßen also dort, schließlich gingen wir zu allem Überdruss noch rüber in Harry's Bar, aber dort war es auch ruhig, und wir schlürften unsere Bellinis. Einen Moment kam mir der Gedanke, es könnte out of Sex etwas öde werden, und ich begann mir
innerlich ein Programm zusammenzustellen, denn worüber sollte ich jetzt acht Tage mit Karel reden?
Er schaute mir ins Gesicht.
»Keine Angst, Frau von Gehlen«, sagte er, »ich geh meiner Wege, hier in Venedig sowie überall und überhaupt.«
»Ich hab keine Angst.«
»Dann ists ja gut.«
Dennoch betranken wir uns an diesem ersten Abend.
Nachdem Inge Haller, zutiefst verstört, ihren Schützling Margit in die Klinik Berner eingeliefert hatte, absolvierte sie ihren Dienst nunmehr mit unbewegtem Gesicht. Der Kontakt zu den Patienten wurde unmerklich durchzogen von Absenzen, die bloß einen Moment einsetzten und im nächsten Moment verschwanden. Es waren kurze Aussetzer, die nur ihr selbst auffielen und die sie nicht weiter beunruhigten. Außerhalb des Dienstes allerdings verdickten sich die Wände ihrer Wohnung, die Stunden der abendlichen Verrichtungen legten sich wie eine zweite Haut um sie und engten sie ein, was immer sie auch unternahm. Sie verspürte mehr und mehr, wie allein sie war und dass es absurd sei, mit Armen und Beinen in den Raum zu ragen, Platz einzunehmen und ständig Atem zu holen. Daheim angekommen, drehte sie das Radio auf, machte sich etwas zu essen, wobei sie Wert darauf legte, den Tisch zu decken, das Besteck und die Serviette an der immer selben Stelle zu platzieren. Sie ging einige Mal den Weg von der Küche ins Esszimmer, rührte in den Töpfen, wischte mit dem Lappen da und dort und merkte allmählich, wie sie begann, auf Gedanken zu achten, die sich mehr und mehr in den Vordergrund drängten.
Erst besuchte sie Margit täglich, saß am Bett und sah in ihr Gesicht hinein, welches sofort einen mürrischen Ausdruck,
durchmustert von Wehmut, annahm und Hallers Blick in sich absorbierte. Wohl antwortete Margit Keyntz auf ihre behutsamen Fragen, aber es war ein steter Ärger in der Stimme zu bemerken. Die Antworten waren einsilbig, und diese Einsilbigkeit wirkte ansteckend, sodass der Haller schließlich die Fragen im Mund stecken blieben und sie zu stottern begann und verstummte. Hierauf sagte auch Margit nichts, bis die Oberärztin aufstand, der Liegenden einen Kuss auf die Stirn drückte. Jedes Mal durchfuhr sie dabei die Vorstellung, Margit könnte auffahren und sie in die Kehle beißen. Sie stellte verwundert fest, dass der Assistenzarzt Guido Messerschmidt offenbar ebenso täglich in der Klinik zu Besuch war. Hierauf vereinbarte sie mit ihm, dass sie abwechselnd Margit aufsuchten, und so geschah es. Inge freute sich, weil der blonde Guido sich um ihre Freundin bemühte, auch wenn sie sich nicht ganz verhehlen konnte, dass sie das auch verstimmte.
Schließlich konnte sie nicht mehr übersehen, dass aus ihrem Alleinsein eine quälende Zuneigung zu Margit herauswuchs; die Gedanken an sie begannen ihre freie Zeit zu beherrschen. Sie genoss es, dass sie sich zu einer Frau hingezogen fühlte, denn nach langer Zeit war es überhaupt wieder ein Lebewesen, welches sie anrührte. Diese wachsenden Gefühle machten ihr ihre bisherige Herzenstaubheit bewusst, sie erschrak über sich selbst.
Am Vortag des Heiligen Abends beschloss sie nun, sich Margit zu erklären. Ich muss ihr einfach sagen, dass sie der wichtigste Mensch auf der Welt für mich geworden ist, dachte sie, während sie
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