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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Schindel
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versteinert haben, bevor er immer wieder zu zersplittern begann.
    Fraul streifte allein durch Venedig, ließ sich den Regen auf den Kopf fallen, ging von Bar zu Bar, sah den Leuten ins Gesicht und war von zerberstender Fröhlichkeit. Am Fischmarkt traf er Roman Apolloner, der sich mit der Südtiroler Gattin eines venezianischen Fischhändlers unterhielt. Wenn er dann abends zu Astrid kam, erzählte er dies und das von seinen Spaziergängen, hernach gingen sie irgendwohin essen, und Nacht für Nacht gaben sie sich aus.
    Schließlich begannen sie noch in Venedig über Phädra zu reden. Fraul nahm sich den Hippolyt vor, als sei es selbstverständlich, dass Adel ihn mit dieser Rolle betrauen würde. Silvester feierten sie im Hotelzimmer. Als sie ineinander verkraucht eingeschlafen waren und das neue Jahr heraufzudämmern begann, war Margit Keyntz in die Donau gegangen und schon nicht mehr am Leben
    Über zwei Monate waren seither vergangen. Unter Astrids Augen begann sich Karl Fraul in Hippolyt zu verwandeln, obwohl der nur schockstarr Abend für Abend im Pick Up herumstand und vorm Einschlafen in der immer räudiger werdenden Wohnung in der Margaretenstraße endlose Rechtfertigungsreden zu Margits Freitod vor Zuschauern hielt, in welchem jeder Einzelne eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte und ihn mit den Blicken aus Sehschlitzen während seiner Reden zersäbelte.
    Astrid hatte Margit nicht gekannt. Sie wusste nichts von ihr. Sie begann sich in deren Gefühle hineinzudenken, wenn auch bereits aus der archaischen Sicht der Minotidin.
    Sie stand auf, zog sich an und fuhr ins Landtmann, traf dort Peter Adel, der mit seiner Stieftochter auf sie wartete.
    3.
    Wiederum sitzt Edmund Fraul auf einer Handhebeldraisine mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Er schaut auf den Zug, welcher der Draisine folgt. Schon wieder streckt Eduard Wirths als Lokführer seinen Schädel seitlich aus dem Lokfenster, rötlich beglänzt ist sein Antlitz von der aufgehenden polnischen Sonne. Er hat die SS -Mütze auf und hält den Befehlsstab eines Bahnaufsichtsbeamten in der Hand. Fraul sieht die grüne Scheibe unentwegt, denn Wirths schwingt den Stab auf und ab seitlich aus dem Lokführerstand heraus. Der Zug kommt immer näher, im Rücken von Fraul und mit dem Gesicht in Fahrtrichtung bewegt Brauneis, der mutige Spaniak, den Schwengel der Draisine auch auf und ab. Fraul spürt den Schweiß, der dem Ferdl herunterrinnt, am eigenen Rücken. Plötzlich dreht Wirths den Befehlsstab um und zeigt dem Fraul die rote Scheibe, und im selben Moment beginnen aus dem Zug dahinter die Häftlinge herauszukollern, stürzen auf die Böschung, stehen auf und bilden eine Kolonne, eine endlose, blau-weiß gestreifte. Das Gesicht von Doktor Wirths kommt näher und näher. Da fährt die Draisine schon wieder mit Karacho ins Tor von Birkenau hinein. Nun ist das Gesicht so nah an das von Fraul herangetuckert, dass sich die Nasen berühren.
    »Ich mache Schluss mit ihnen heute, Fraul«, sagt Wirths, deutet mit dem Daumen hinter sich auf den Häftlingswurm, sein Atem duftet nach Mandeln, »ich brings heute zu End, gemeinsam mit dem dicken Apotheker Capesius. Wir haben heute die Pflicht und Schuldigkeit.«
    Und der blau-weiß gestreifte Häftlingszug ruckelt vorüber. Schon wieder steigt Brauneis von der Draisine, er hat keine Beine, und Doktor Capesius schickt ihn nach links.
Schon wieder korrigiert das Wirths und bringt ihn nach rechts.
    »Arbeiten ohne Beine«, lacht der Apotheker, »wie soll das gehen?«
    »Sehen Sie, Fraul«, flüstert Eduard Wirths, »so wenige wie möglich müssen nach links. Sind wir nicht ein gutes Team? Edi und Edi?«
    »Doktor Wirths«, wispert Fraul, und dann war er wach. Er sah sich nach Rosa um; die lag neben ihm und schlief mit leicht geöffnetem Mund. Sie hatte ihn nicht aus dem Alb geholt, sie hatte seinen Albtraum verschlafen, wie zumeist in den letzten Wochen. Edmunds Mund war trocken wie stets, und er stieg mit einiger Anstrengung aus dem Bett, ging ins Bad, trank Wasser und schaute in den Spiegel.
    Nachdem er sich angekleidet hatte, ging er, ohne Frühstück und auch ohne einen Blick auf Rosa zu werfen, aus dem Haus. Ihm wehte ein kalter Wind ins Gesicht, aber Fraul konnte aus dem Kern der Kälte eine Spur von lindem Luftzug herausspüren. Er nahm es hin und machte sich daran, über die Brücke zu gehen, an der Ruprechtskirche vorbei und weiter und weiter, die Rotenturmstraße hinauf und rechts in die Brandstätte hinein. Als er in

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