Der Kannibalenclan
muss für meine Kinder da sein… Ich will nicht sterben, ich will leben, leben für meine Kinder.«
»Frau Spesiwtsew, das hätten Sie sich wohl früher überlegen müssen, jetzt ist es zu spät. Ich kann Ihnen nur nochmals versichern, dass ich aufgrund der bisherigen Ermittlungen gegen Ihren Sohn und Sie die Todesstrafe beantragen werde, und glauben Sie mir, es wird in ganz Sibirien keinen Richter geben, der anderer Meinung ist als ich. Aber lassen wir das.
Haben Sie mir etwas zu sagen oder nicht, meine Geduld mit Ihnen ist für heute zu Ende.«
»Herr Staatsanwalt, ich habe mit dem, was mein Sohn mit den Mädchen getan hat, nichts zu tun. Ich war in dieser Wohnung, in der auch mein Sohn gelebt hat. Sie haben Recht, ich hätte das alles nicht zulassen dürfen. Aber ich liebe meinen Sohn, und was sollte ich tun, ich wollte doch nicht, dass er sich eine eigene Wohnung nimmt und noch schrecklichere Dinge tut… ja, ja, ja… ich habe die Mädchen in die Wohnung gelockt, und ich wusste sehr genau, was mit ihnen geschieht.
Doch hätte ich es nicht getan, wäre ich genauso wie diese Mädchen verprügelt worden. Wahrscheinlich hätte er dann auch meine Tochter wieder ständig vergewaltigt, wie er es schon oft getan hat. Oder er hätte mich wieder einmal krankenhausreif geschlagen.
Meine Tochter und ich standen immer vor der Wahl, entweder geschieht dies alles mit uns oder mit anderen Menschen. Irgendwann wollten wir uns selber schützen und ließen alles zu, was Sascha wollte, brauchte, ja verlangte.
Schauen Sie, ich und meine Tochter bekamen von meinem Mann nur Schläge, er trank jeden Tag. Er war sehr nett zu uns, bis ich das verdiente Geld herausrückte, damit er sich seinen Wodka kaufen konnte. Eines Tages, wir bekamen wieder einmal keinen Lohn, schrie er mich an: ›Räumst wohl schon alles Geld beiseite, für dich und deine Bälger? Ich werde euch schon helfen, ihr Hurengesindel.‹ Dann riss er meiner Tochter, die sich schützend an mich klammerte, die Kleider vom Leib und vergewaltigte das Kind vor meinen Augen. Schützend warf ich mich über sie, als sie nackt vor mir am Boden lag und ihre Augen mich Hilfe suchend anstarrten. Doch ich konnte ihr nicht helfen; mit einer Heiligenstatue schlug er mich bewusstlos. Als ich erwachte, sah ich mein Kind nackt am Boden liegend, während sich mein Mann ein neues Glas Wodka einschenkte. Ich hörte sie immer nur schreien: ›Der Papa tut mir so weh, Mama, bitte hilf mir, es tut so weh.‹
Wissen Sie, was da in einer Mutter vorgeht, wenn man so etwas mit ansehen muss?
Und glauben sie ja nicht, dass das nur einmal passiert ist.
Mein Mann machte das dann laufend mit meinem Kind; für ihn war ich nur noch eine alte Kuh, mit der man nicht mehr schlafen kann. Und lassen Sie mich noch eines sagen: Sascha kann nichts dafür, was er getan hat. Glauben Sie mir, er ist nur wie sein Vater. Sperren Sie lieber den ein, der ist an allem schuld. Er wollte doch auch nur kleine Mädchen, genau wie sein Sohn Sascha.«
Während sie diese Worte spricht, betrachtet sie immer wieder ihren Sohn, der ihr wie gelähmt gegenübersitzt. Auch beim Staatsanwalt hat ihr plötzlicher Gefühlsausbruch offensichtlich einen starken Eindruck hinterlassen, denn er bricht die Befragung mit den Worten ab: »Frau Spesiwtsew, ich muss über Ihre Ausführungen nachdenken. Wir sehen uns morgen wieder.«
Beide, Mutter und Sohn, werden wieder zu ihren Zellen gebracht. Sascha, wie er später berichtet, bereut ab diesem Zeitpunkt nur eines – dass er seinen Vater nicht getötet hat:
»Ich hätte dabei gelacht, und er hätte länger leiden müssen als alle anderen, die ich umgebracht habe.« Saschas Mutter ist erleichtert, als sie wieder in ihrer Zelle sitzt. Sie hat sich zum ersten Mal in ihrem kümmerlichen Leben das von der Seele geschrien, was sie seit Jahrzehnten bedrückt.
Ludmilla Spesiwtsew wartet angespannt auf den nächsten Tag, an dem sie erneut von dem Staatsanwalt verhört werden soll. Es gibt für sie noch so viel, was sie ihm zu sagen hätte.
All die Jahre, in denen sie nur geschwiegen hat, nun will sie es loswerden.
Zwei Wochen später
Doch der Staatsanwalt benötigt sehr viel mehr Zeit, um all das in sich aufzunehmen, was ihm diese Frau bisher gesagt hat.
Fast zwei Wochen vergehen, bis man Mutter und Sohn wieder aus den Zellen holt und sie sich im einfach eingerichteten Vernehmungszimmer des Lagers ein weiteres Mal gegenübersitzen.
»Bitte, Herr Staatsanwalt«, beginnt Ludmilla
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