Der Kannibalenclan
Leben bleiben, ist nicht der Meinung ihres Sohnes, der sich nur den Tod wünscht.
»Ich hoffe, Sie haben sich alles gut überlegt, Frau Spesiwtsew?«, begrüßt der Staatsanwalt Saschas Mutter in seinem Dienstfahrzeug, das vor dem Lager wartet.
»Sie können sich darauf verlassen, ich werde Ihnen alles zeigen, was Sie sehen wollen. Es gibt nur eine Stelle, wo ich alles vergraben habe.«
»Ich will nichts sehen – ich will, dass diese Kinder ihre letzte Ruhe finden, verstehen Sie das? Ach, was rede ich da, das können Sie ohnehin nicht verstehen. Ich rate Ihnen nur eines: Geben Sie den Müttern und Vätern dieser Kinder die Möglichkeit, Frieden mit sich und mit ihrem Leben zu finden.
Glauben Sie mir, Ihr Leben interessiert mich nicht, aber das Leben der Angehörigen, denn die sind es, die weiterleben müssen, ob sie wollen oder nicht. Also strengen Sie sich an, sonst haben Sie Ihr Leben für mich verwirkt. Sie bekommen einen Spaten, und Sie allein werden jeden noch so kleinen Knochen ausgraben. Niemand wird Ihnen helfen; ich will sehen, wie Sie jeden Quadratzentimeter alleine aus der Erde heben, so wie Sie es schon einmal getan haben, um diese schweren, grausamen Verbrechen zu vertuschen.«
Keine halbe Stunde vergeht, und der Wagen der Staatsanwaltschaft hält aufgrund der Wegbeschreibung von Saschas Mutter an. Nur wenige hundert Meter vom Mietshaus der Familie Spesiwtsew entfernt sagt sie: »Hier ist es, bitte bleiben Sie stehen.«
Drei Polizeifahrzeuge mit Beamten sind dem Wagen des Staatsanwalts gefolgt. Nacheinander parken sie am Rand des unwegsamen Geländes. Kleine Büsche und Sträucher verhindern eine Einsicht von der Straße her.
Der leitende Staatsanwalt und fünf Polizisten haben die kleine, zierliche Frau in ihre Mitte genommen. Einer der Beamten holt einen Spaten aus dem Kofferraum seines Wagens und übergibt ihn wortlos der Frau. Mit ihren viel zu großen Stiefeln stapft sie zu einem kleinen Baum und beginnt zu graben. Es ist nicht das erste Mal, dass sie an dieser Stelle das Erdreich aufgräbt. Doch diesmal ist sie nicht allein, auch ist es an diesem Tag noch nicht dunkel. Diesmal stehen Männer um sie herum und warten auf das, was sie zu Tage bringt.
Ludmilla Spesiwtsew nimmt den Spaten in die Hand und beginnt das Erdreich zu lockern. Sie schaut die vielen Männer nicht an; wie ein Goldgräber versucht sie, erfolgreich zu sein.
Nach einer halben Stunde kommt der erste kleine Knochen zum Vorschein. Sie bückt sich, zieht ihn aus der Erde und versucht ihn mit ihrer Spucke zu reinigen. Einer der Männer nimmt ihr den Knochen aus der Hand und steckt ihn in einen blauen Plastikbeutel. Es vergehen nur Minuten, und weitere Knochen kommen ans Tageslicht.
Saschas Mutter gräbt und gräbt, und man merkt ihr an, dass sie schwere Arbeit gewöhnt ist. Sie wiederum bemerkt, wie sehr sie von den umstehenden Männern verachtet wird.
Immer wieder werden kleine Knochen gefunden, immer wieder trennt sie sie sauber von der Erde und wirft sie in die von den Beamten bereitgehaltenen Plastikbeutel. Doch der leitende Staatsanwalt ist mit ihrer Arbeit noch nicht zufrieden.
»Angeklagte!« – Wahrscheinlich nennt er sie das erste Mal so – »Was soll das hier … das können genauso gut Hühnchenknochen sein. Ich kann das nicht entscheiden, dafür ist die Gerichtsmedizin zuständig. Aber ich weiß, dass Menschen sehr viel größere Knochen haben, und davon habe ich noch keine gesehen.«
»Herr Staatsanwalt, hier habe ich auch nur die kleinen Teile vergraben. Hände, Füße und anderes.«
»Und die großen Knochen, wo haben Sie die hingebracht?«
»Das wissen Sie doch. Die habe ich in den Fluss geworfen.«
»Frau Spesiwtsew, wenn Sie glauben, dass ich mich mit dem, was sie hier zu Tage gebracht haben, zufrieden gebe, haben Sie sich getäuscht. Meine Aufgabe ist es, Beweise zu finden, aber was ich bisher von Ihnen bekommen habe, sind keine Beweise, das könnten genauso gut Knochen von Tieren sein. Also graben Sie weiter, und bringen Sie mir Knochen, anhand derer wir die Identität der Opfer nachweisen können, oder wir vergessen unsere Abmachung.«
Er ist verärgert und ungeduldig, immer wieder kommt ihm sein kleiner Pakt mit dieser Frau in den Sinn – Abscheu ergreift ihn, Abscheu vor der Welt, vor dieser grabenden Frau, vor sich selbst, der sich mit solchen Menschen – Menschen! – einlässt, aus welchen Gründen auch immer. Mit Ekel in der Stimme spricht er weiter: »Wenn Sie der Todesstrafe entgehen
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