Der Kannibalenclan
wollen… also, was ich hier bisher gesehen habe, reicht mir nicht. Bringen Sie alles zu Tage, sodass ich guten Gewissens den Angehörigen der Opfer sagen kann: Hier sind die Überreste Ihrer Töchter. Alles andere zählt nicht für mich.«
Er wendet sich ab, scheinbar, um sie mit den Bewachern allein zu lassen. Sie fleht ihn an: »Herr Staatsanwalt, hier habe ich nur Teile vergraben, die man nicht essen konnte. Die großen Knochen habe ich in den Fluss geworfen, das wissen Sie doch.«
Tränen steigen ihr in die Augen. Man mag es nicht glauben, dass es dieselben Augen sind, die ungerührt der Marter vieler kleiner Mädchen zugesehen haben.
»Nun, sprechen wir noch einmal das Thema an, das mir besonders am Herzen liegt. Sollten Sie nur derart kleine Knochen finden, war Ihre Mühe umsonst. Da kann ich den Angehörigen ebenso gut Geflügelknochen vorlegen. Also, wo sind die Körper der Opfer? Ich fordere Sie zum letzten Mal auf: Lassen Sie zu, dass die Angehörigen ihren inneren Frieden finden und die sterblichen Überreste ihrer Töchter anständig begraben können.«
»Sie wissen sehr genau, Herr Staatsanwalt, dass ich Ihnen sage und zeige, was ich weiß. Ich habe doch selbst alle Teile in den Fluss geworfen. Ich tue doch alles, was Sie wollen, ich will doch leben. Aber verlangen Sie doch nicht etwas von mir, was ich nicht kann.«
»Können Sie sich nicht noch an andere Plätze erinnern, wo Sie die Opfer vergraben haben?«
»Nein«, antwortet sie und gräbt weiter.
»Sind Sie sich ganz sicher?«, hakt der Staatsanwalt nach.
»Ganz sicher.«
»Aber wohin sind dann die anderen Opfer verschwunden?«
»Die habe ich in den Fluss geworfen, ich sagte es Ihnen ja schon.«
»So so, in den Fluss.« Er grübelt. »Wir haben so ziemlich alles, was Sie in den Fluss geworfen haben, geborgen.
Unzählige menschliche Leichenteile, aber eben nur einen Kopf.
Einen einzigen Kopf, von neunzehn Mädchen, die Ihr Sohn gestand, getötet zu haben. Also: Wo sind die anderen Köpfe?«
»Die … die habe ich, oder wir… bitte, muss ich das wirklich sagen?«
»Ja, das müssen Sie uns schon erzählen. Wir sind nicht zum Spaß hier.«
»Herr Staatsanwalt… Herr Staatsanwalt, ich weiß nicht, ob ich das sagen soll.«
»Sie müssen es uns sagen – oder wollen Sie die Todesstrafe?«
»Unser Hund hat sie gefressen. Und wir waren froh darum.
Sascha hat immer nur gesagt: Verräume die Köpfe, damit sie nie jemand finden kann. Wenn man die Köpfe nicht hat, kann man uns nichts beweisen.«
Nach diesen Worten beendet der Staatsanwalt die Aktion, jedoch nicht, ohne noch einmal die Funde des Tages zu begutachten. Insgesamt sind es vielleicht hundertzwanzig kleine Knochenteile, fein säuberlich in Plastiktüten verpackt.
Wer war diese Frau, die unschuldige Kinder in die Fänge eines Ungeheuers trieb? Die Menschenfleisch kochte, nur aus Liebe zu ihrem Sohn? Die Frau, die zunächst alle Schuld von sich wies und nur unter dem Druck der Aussage der für wenige Stunden überlebenden Zeugin alles gestand. Die Frau, die gestand, Mädchen in die Fänge eines Sohnes getrieben zu haben, der die Opfer, die noch Kinder waren, vergewaltigt, gefoltert, zerstückelt und gegessen hat. Wer war diese Frau, die nur daran dachte, ihr Leben zu retten, und allein aus diesem Grunde die Leichenteile ausgrub? Wer die Filme der Staatsanwaltschaft sieht, wer sieht, wie sie die wiedergefundenen Knochenteile mit unbeteiligter Miene in die Hand nimmt und wie etwas Wertloses in die Plastikbeutel der Gerichtsmedizin wirft, weiß, dass diese Frau nicht den normalen Vorstellungen menschlicher Regungen entspricht. Sie ist weit entfernt von dem, was ein »normaler« Mensch fühlen und erfassen kann.
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Eine Reise nach Sibirien, fast nur möglich über Moskau, ist in unserer schnelllebigen Zeit noch immer ein Abenteuer. Das Abenteuer beginnt bereits mit dem Versuch, von Moskau aus einen Anschlussflug nach Sibirien zu bekommen. Natürlich ist man im Besitz eines Tickets, doch für dieses Dokument hat das Bodenpersonal des Flughafens nur ein müdes Lächeln übrig.
Man wird von oben bis unten gemustert, als hätte man einen Flug zum Mars gebucht. Vielleicht auch verständlich: Welcher Ausländer bucht schon eine Reise nach Sibirien? So wird einem erklärt, dass für den vorgesehenen Nachtflug nur dieser eine Platz gebucht ist und dass dies natürlich Probleme mit sich bringt.
»Können Sie denn nicht morgen fliegen, da haben wir wenigstens noch zwei weitere
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