Der Kardinal im Kreml
langsam.
Fünfzehn Minuten später troff der Schweià von seinem bleichen Körper. Er hob den Kopf und sah den Wärter, der die üblichen Sprüche über Wodka und das kalte Becken machte. Alles ganz normal für einen Mann in seinem Beruf, aber die Wortwahl bedeutete: Alles klar. Bereit zur Ãbergabe. Zur Antwort wischte sich Mischa mit einer übertriebenen Geste den Schweià von der Stirn: Bereit. Der Wärter ging. Mischa begann, bis dreihundert zu zählen. Als er bei zweihundertsiebenundfünfzig angelangt war, stand einer seiner Mitalkoholiker auf und ging hinaus. Mischa nahm das zur Kenntnis, machte sich aber keine Sorgen. Er war in dieser Sache schon viel zu geübt. Bei dreihundert erhob er sich ruckartig und verlieà wortlos den Raum.
Im Umkleideraum war es viel kühler, aber er sah, daà der andere Mann noch nicht gegangen war, sondern sich mit dem Wärter unterhielt. Mischa wartete geduldig, bis der Wärter ihn bemerkte. Der junge Mann kam zu ihm herüber, und der Oberst trat ihm ein paar Schritte entgegen, stolperte über eine lose Fliese und wäre beinahe hingefallen. Mischa streckte den gesunden Arm aus, der Wärter ergriff ihn. Die Birkenzweige fielen zu Boden.
Der junge Mann hob sie im Nu auf und half Mischa auf die Beine. Sekunden später hatte er ihm ein frisches Handtuch gegeben und ihn auf den Weg geschickt.
»Alles in Ordnung, Genosse?« fragte der andere Mann von der entfernteren Seite des Raumes her.
»Danke, ja. Liegt an meinen alten Knien und diesem alten FuÃboden. Um den sollte sich mal jemand kümmern.«
»Allerdings. Gehn wir zusammen unter die Dusche?« fragte der Mann. Er war um die vierzig und sah, abgesehen
von seinen blutunterlaufenen Augen, nichtssagend aus. Auch ein Trinker, erkannte Mischa. »Waren Sie im Krieg?«
»Bei den Panzern. Am Kursker Frontvorsprung erwischte mich ein deutsches Geschütz, aber ich schoà es trotzdem ab.«
»Mein Vater war auch dabei. Er diente unter Konew in der Siebten Gardearmee.«
»Ich stand auf der anderen Seite: Zweite Panzerarmee unter Konstantin Rokossowski. Mein letzter Einsatz.«
»Den Grund sehe ich, Genosse ...«
»Filitow, Michail Semjonowitsch, Oberst der Panzertruppen.«
»Ich heiÃe Klementi Wladimirowitsch Watutin. Erfreut, Sie kennenzulernen, Genosse.«
»Ein alter Mann freut sich, wenn man ihm Respekt erweist.«
Watutins Vater hatte in der Tat bei Kursk gedient, aber als Politoffizier. Er war als Oberst des NKWD in Pension gegangen, und sein Sohn war in der Behörde, die später in KGB umbenannt wurde, in seine FuÃstapfen getreten.
Zwanzig Minuten später saà der Oberst wieder in seinem Dienstwagen, und der Wärter hatte sich durch den Hinterausgang entfernt und in eine bestimmte chemische Reinigung begeben. Der Inhaber nahm die Filmkassette entgegen, steckte sie ein und reichte drei Halbliterflaschen Wodka über die Theke.
Fünfzehn Minuten später erschien eine Stammkundin mit einem englischen Mantel und verlangte wie üblich die schonendste Reinigungsmethode. Wie immer nickte der Inhaber und versicherte, seine Reinigung sei die beste in der ganzen Sowjetunion. Dann stellte er den Schein aus und durchsuchte die Taschen des Kleidungsstücks.
»Genossin, Sie haben Ihr Kleingeld vergessen. Nett von Ihnen, aber wir nehmen kein Trinkgeld.« Er reichte ihr die Münzen, den Durchschlag des Scheins und etwas anderes. So einfach war das.
»Sie sind ein ehrlicher Mann, Genosse«, sagte die Dame. »Schönen Tag noch.«
»Danke gleichfalls«, erwiderte der Mann. »Der nächste, bitte.«
Die Dame â sie hieà Swetlana â ging wie gewöhnlich zur Metrostation. Ihr Zeitplan ermöglichte eine gemächliche Gangart für den Fall, daà am einen oder anderen Ende Probleme entstanden. Wie üblich drängten sich auf den StraÃen von Moskau geschäftige, verbissen aussehende Menschen, von denen nicht wenige ihren Mantel mit neidischen Blicken bedachten. Sie hatte eine umfangreiche englische Garderobe, da sie im Zusammenhang mit ihrer Arbeit bei GOSPLAN, der Planungsbehörde des Wirtschaftsministeriums, oft in den Westen gereist war. Und in England hatte sie der britische Geheimdienst rekrutiert. Man setzte sie in der KARDINAL-Kette ein, weil die CIA in der Sowjetunion nicht über allzu viele Agenten verfügte, und gab ihr mit Bedacht nur
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