Der Kardinal im Kreml
Aufträge in der Mitte der Kette, nie an einem der Enden. Bei den Daten, die sie selbst an den Westen weitergab, handelte es sich um relativ unwichtige Wirtschaftsinformationen, aber ihre gelegentlichen Kurierdienste waren ihren Auftraggebern ungleich bedeutender als das Material, auf das sie so stolz war. Selbstverständlich verriet ihr Führungsoffizier ihr das nie; jeder Spion glaubt, hochwichtige Informationen weiterzugeben. Das machte das Spiel noch interessanter, und ungeachtet ihrer ideologischen oder anderen Motive sehen Spione in ihrer Arbeit das raffinierteste aller Spiele. Swetlana genoà ihre Existenz am Rande des Abgrunds, ohne zu wissen warum. AuÃerdem glaubte sie, ihr hochgestellter Vater â ein langjähriges Mitglied des ZK â könne sie vor allem schützen. Immerhin ermöglichte ihr sein Einfluà zwei- bis dreimal im Jahr Reisen nach Westeuropa. Swetlanas Vater war ein aufgeblasener Mann; sie war sein einziges Kind, die Mutter seines einzigen Enkels und so sein ein und alles.
Gerade rechtzeitig zur Abfahrt eines Zuges betrat sie die Station Kusnezki Most. Im Berufsverkehr fährt die Moskauer U-Bahn im DreiÃig-Sekunden-Takt. Swetlana schaute auf die Uhr; wieder genau pünktlich. Ihr Kontakt würde mit dem nächsten Zug kommen. Sie ging den Bahnsteig
entlang zu der Stelle, an der der zweite Wagen zum Stehen kommen würde, und stellte so sicher, daà sie als erste durch die vordere Tür trat. Bald hörte sie den Zug nahen. Wie immer wandten sich Köpfe dem einfahrenden ersten Wagen zu, und dann erfüllte das Quietschen der Bremsen die hochgewölbte Station. Die Tür glitt auf, ein Menschenstrom quoll heraus. Dann stieg Swetlana ein und trat ein paar Schritte in den Wagen, griff nach einer Haltestange. Alle Sitzplätze waren besetzt, und wegen einer Frau stand heute niemand mehr auf. Der Zug fuhr mit einem Ruck an. Swetlana hatte die bloÃe Hand in der Manteltasche.
Das Gesicht ihres Kontaktmannes in diesem Zug hatte sie noch nie gesehen, aber sie wuÃte, daà er ihres kannte. An seinem Signal spürte sie auch, daà er ihre schlanke Figur zu schätzen wuÃte, denn im Gedränge glitt eine Hand, die die Iswestija hielt, an ihrem Gesäà entlang und kniff sanft. Das war neu, und sie wehrte sich gegen den Impuls, ihm ins Gesicht zu schauen. Ein guter Liebhaber? Ihr Ex-Mann war so ein ... aber nein. Sie fand die Anonymität romantischer. Swetlana hielt den Film zwischen Daumen und Zeigefinger und wartete, daà der Zug an der nächsten Station Puschkinskaja hielt. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem winzigen Lächeln, als sie über den Kontaktmann, dessen Hand sie berührt hatte, Spekulationen anstellte. Ihr Führungsoffizier wäre entsetzt gewesen, aber sie lieà sich sonst nichts anmerken.
Der Zug bremste ab. Menschen erhoben sich von ihren Sitzen, die Stehenden verlagerten ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Swetlana nahm die Hand aus der Tasche. Die Filmkassette war schlüpfrig. Die fremde Hand löste sich mit einem letzten leichten Druck von ihrer Hüfte, um den Film entgegenzunehmen.
Direkt hinter Swetlana stolperte eine ältere Frau über ihre eigenen FüÃe und prallte gegen den Kontaktmann, der in der Folge Swetlana den Film aus der Hand stieÃ. Sie merkte das nicht sofort, aber sobald der Zug zum Stehen gekommen war, begann der Mann auf allen vieren zu suchen. Mehr überrascht als entsetzt schaute sie nach unten
und sah seinen Hinterkopf. Kahl, und der Haarkranz über seinen Ohren grau â ein alter Mann! Gleich darauf hatte er sich die Kassette geschnappt und sprang wieder auf. Nicht mehr jung, aber rüstig, dachte sie. Ein markantes Profil â hm, vielleicht doch ein guter Liebhaber, und, wichtiger noch, ein geduldiger dazu, dachte sie. Er huschte aus dem Zug, und sie sammelte ihre Gedanken. Daà ein Mann, der auf der linken Seite des Wagens gesessen hatte, plötzlich aufsprang, bemerkte sie nicht.
Er hieà Boris und war ein Nachtdienstoffizier der KGB-Zentrale, und auf dem Heimweg, und hatte zufällig auf dem schmutzigen Wagenboden eine Filmkassette gesehen, die zu klein war, um aus einer normalen Kamera zu stammen. Er hatte weder die versuchte Ãbergabe gesehen noch mitbekommen, wer den Gegenstand fallen gelassen hatte, nahm aber an, daà es der Mann gewesen war, der ihn mit groÃem Geschick aufgehoben
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