Der Kardinal im Kreml
überzeugt hatte, daà ihn niemand sah, steckte er dem Russen die Fotos seiner Familie zu. Einen kurzen Augenblick lang wurden seine Augen weich, denn der KGB-Offizier schaute ihn mit einer Ãberraschung an, die den Schmerz in den Hintergrund drängte. Mit der gesunden Hand nahm er die Bilder und drückte sie dankbar an die Brust. Der Mann dachte an seinen toten Sohn und sein eigenes Schicksal.
Sein vom Schmerz benommener Verstand arbeitete noch immer nicht richtig. In seinem Dämmerzustand fragte der Russe sich, warum man ihn nicht getötet hatte. In Moskau hatte er oft genug gehört, wie die Afghanen mit ihren Gefangenen umgingen. Du darfst nicht sterben, Walerij Michailowitsch. Deine Frau hat schon genug gelitten, sagte er sich. Der Gedanke verflog von selbst. Der Hauptmann schob die Bilder in die Brusttasche und ergab sich der erneut nahenden BewuÃtlosigkeit. Er wachte auch nicht auf, als man ihn auf ein Brett mit zwei Tragestangen daran band. Der Bogenschütze lieà seine Männer aufbrechen.
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Als Mischa erwachte, hallte Schlachtenlärm durch seinen Schädel. DrauÃen war es noch dunkel, und als erstes ging er ins Bad, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen und drei Aspirin zu nehmen. Dann trockenes Würgen über der Toilette, aber es kam nur Galle; er richtete sich auf, um im Spiegel nachzusehen, was der Verrat an dem Helden der Sowjetunion angerichtet hatte. Die einst klaren blauen Augen waren blutunterlaufen und stumpf. Die Haut war leichengrau und schlaff; graue Stoppeln verwischten Züge, die einmal als anziehend gegolten hatten. Er streckte den rechten Arm aus, und wie üblich war das Narbengewebe steif und sah wie Plastik aus. Nun ja. Er spülte sich den Mund aus und stapfte in die Küche, um Kaffee zu kochen, kippte das glühendheiÃe Gebräu hinunter und hob dann den Hörer, um seinen Dienstwagen zu bestellen. Er wollte heute früher abgeholt werden, und obwohl er den Grund
nicht nannte, wuÃte der Feldwebel von der Fahrbereitschaft, daà er in die Bäder wollte.
Zwanzig Minuten später tauchte Mischa aus seinem Haus auf. Schon tränten ihm die Augen; er blinzelte gequält in den beiÃenden Nordwestwind, der versuchte, ihn zurück in die Tür zu blasen. Der Feldwebel erwog, seinen Oberst zu stützen, doch Filitow verlagerte leicht sein Gewicht und stieg in den Wagen, als wäre es sein alter T-34.
»Zum Dampfbad, Genosse Oberst?« fragte der Fahrer, nachdem er sich hinters Steuer gesetzt hatte.
»Haben Sie den Wodka verkauft, den ich Ihnen geschenkt habe?«
»Hm, ja, Genosse Oberst«, antwortete der junge Mann.
»Brav. So istâs besser für Ihre Gesundheit. So, und jetzt rasch zu den Bädern«, befahl der Oberst in gespieltem Ernst, »es geht um mein Leben.«
»Die Deutschen haben Sie nicht umbringen können, Genosse Oberst«, versetzte der Junge heiter, »wie sollen Ihnen da ein paar Tropfen Wodka etwas anhaben?«
Mischa gestattete sich ein Lachen und ertrug den scharfen Kopfschmerz. »Hätten Sie Lust, auch einmal Offizier zu werden?«
»Ach, Genosse Oberst, ich möchte lieber zurück an die Uni. Mein Vater ist Chemieingenieur, und ich will in seine FuÃstapfen treten.«
»Sein Glück, daà er einen solchen Sohn hat. Los gehtâs.«
Zehn Minuten später fuhr der Wagen beim Dampfbad vor. Der Feldwebel lieà seinen Oberst aussteigen und hielt dann auf einem der reservierten Parkplätze, von denen aus er den Eingang im Auge behalten konnte. Er steckte sich eine Zigarette an und schlug ein Buch auf. Sehr angenehmer Posten, viel besser, als sich mit einer Mot-Schützenkompanie im Schlamm zu suhlen. Er schaute auf die Uhr. Mit dem alten Mischa war erst in einer knappen Stunde zu rechnen. Schade, daà der Alte so einsam sein muÃ, dachte er. Pech, daà ein Held so endet ...
Drinnen war die Prozedur so eingefahren, daà Mischa sie im Schlaf beherrschte. Nach dem Ausziehen holte er
sich Handtücher, Sandalen und Birkenreisig ab und begab sich zum Dampfraum. Die meisten Stammgäste waren noch nicht da. Um so besser. Er lieà mehr Wasser auf die heiÃen Ziegelsteine strömen, setzte sich und wartete, daà die hämmernden Kopfschmerzen nachlieÃen. Drei andere saÃen verteilt im Raum. Zwei kannte er, aber auf ein Gespräch schien niemand Lust zu haben, was Mischa auch recht war. Das Aspirin wirkte heute
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