Der Kartograph
das
Pflaster. Die beiden Männer beschleunigten ihre Schritte. Sie
waren jetzt am Kornmarkt angelangt, bereits ein Stück vom Rhein
entfernt. Es war nicht mehr allzu weit. Das Rauschen des Flusses war
selbst über diese Entfernung hinweg zu hören. Der Rhein
führte viel Wasser für diese Jahreszeit.
Sie passierten den Platz und folgten dem Wasserlauf, der sich an der
Rückseite der Häuser der großen Gerbergasse entlangzog.
An heißen, trockenen Tagen bildete er eine einzige, stinkende
Kloake. Alles, was die Weiß- und die Rotgerber für ihr
Geschäft brauchten, floss dort hinein und dann weiter in den
Rhein, dachte Waldseemüller. Der Beize für die Häute
wurde oft gehörig Hundekot beigemischt. Dann musste die Suppe
gären. Je schlimmer der Brei stinke, in dem das Leder eingelegt
wurde, um so besser wirke die Beize, hatte ihm ein Gerber erklärt.
Der Regen dieser Nacht hatte auch hier den schlimmsten Gestank
abgemildert. Waldseemüller lebte in einem der kleineren
Gebäude in der zweiten Reihe, in der kleinen Gerbergasse.
Die Regentropfen prasselten nun dichter auf sie nieder. Trotzdem blieb
er stehen. «Kolumbus – er behauptet, er habe den Seeweg
nach Indien entdeckt. Was haltet Ihr von ihm?»
Matthias Ringmann zog ihn weiter. «Sebastian Brant, ein guter Freund – Ihr wisst schon, der Verfasser des Narrenschiffs –, hält den Genuesen für einen Narren und Aufschneider,
für völlig unglaubwürdig, ebenso wie diesen Marco Polo
und seine Reiseberichte. Vespucci scheint mir sehr viel
glaubwürdiger zu sein. Wer weiß, wer diese Kannibalen in
seine Texte geschmuggelt hat, damit sich die Schrift besser verkauft.
Ihr kennt das Geschäft ebenso gut wie ich und wisst, wie das
manchmal läuft. Nun, in diesem Fall hat es gewirkt, die Schrift
wird uns aus den Händen gerissen. Kolumbus und Vespucci kennen
sich übrigens. Das habe ich jedenfalls gehört.»
Philesius zog den Mantel enger um sich und beschleunigte den Schritt.
«Sind wir bald da?»
Waldseemüller nickte. «Da vorne ist eine Passage zwischen
zwei Gebäuden, da kommen wir durch.» Er ließ sich
nicht vom Thema ablenken. Matthias Ringmann sollte noch öfter
feststellen, dass das eine typische Eigenschaft von ihm war. Wenn er
sich in etwas verbissen hatte, ließ er nicht mehr los, egal, wie
widrig die äußeren Umstände auch sein mochten.
«Ja, ich halte auch einiges in Mundus Novus für etwas übertrieben», erklärte er. Vielleicht
wollte Vespucci damit nur seine Geldgeber animieren, ihm Mittel
für weitere Expeditionen zur Verfügung zu stellen. Aber dass
sogar Ihr, der Verfasser des Nachdrucks von De ora Antarctica, das sagt!»
«Nun, wer auch immer diese Geschichten in Vespuccis Berichte
hineingeschrieben hat, kannte die Vorlieben der Menschen für
schaurig-schlüpfrige Details und wusste, wie sie sich auf den
Verkauf auswirken können. So oder so. Mir kommen diese
Veränderungen gut zupass. Ein armer Dichter muss auch leben. Warum
also sollte ich päpstlicher sein als der Papst?»
Waldseemüller gefiel die lakonische Art des anderen. Für den
Augenblick aber war er ganz von seinen Träumen eingenommen. Die
Feuchtigkeit, die bereits unter den Mantel bis auf die Haut kroch,
spürte er kaum, denn sein Geist schwebte in ganz anderen Welten.
«Erinnert Ihr Euch, Vespucci schreibt so bildhaft über die
Sitten und Gebräuche der Naturmenschen dort, über die sanften
Hügel, die großen Flüsse, die heilenden Quellen, die
Papageien, das rote Holz! Dieser Mann ist nicht nur ein großer
Seefahrer und Kapitän, sondern auch noch ein exzellenter
Beobachter, sogar ein Dichter. Ich konnte es zunächst kaum
glauben, als ich hörte, dass dieser geniale Geist als Agent der
Medici sechzehn Jahre lang nichts anderes bewegt hat als Zahlen und
Waren. Er war ein Krämer, ein Buchhalter. Ach, ich wollte, ich
könnte mit ihm tauschen. Es tröstet mich etwas, dass auch er
erst relativ spät zur Seefahrt kam. Er muss schon über
vierzig Jahre alt gewesen sein. Wenn ich es nur schaffe, eine
brauchbare Seekarte herauszubringen. Mein Onkel hat versprochen, sie zu
drucken.»
«Dann stehen Euch ja noch alle Möglichkeiten offen. Die Welt
liegt Euch gewissermaßen zu Füßen.» Selbst die
Augen Ringmanns bekamen jetzt einen entrückten Ausdruck, und in
seiner Stimme schwang eine schwärmerische Sehnsucht mit.
Waldseemüller meinte, aus ihrem Klang aber auch eine gewisse
Traurigkeit herauszuhören. «Es gibt in dieser Zeit wohl
wirklich keine größere Herausforderung für einen
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