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Der Kartograph

Der Kartograph

Titel: Der Kartograph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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nichts aus, dass sie über ihn
lachte.
    «Marie, reiß dich zusammen, wir sollten
dem armen Mann helfen, nicht uns über ihn lustig machen»
– erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie mit drei Begleitern
unterwegs war, zwei davon wohl einige Jahre jünger als er selbst,
einer ungefähr im Alter von Marie.
    Ihm wurde erneut schwindlig. Er suchte Halt, griff
in die Luft. Dann spürte er, wie ihm die Sinne schwanden. Arme
fingen ihn auf.
    «Philesius, halt ihn fest, schnell, er kippt
um!», rief eine Mädchenstimme. Noch auf dem Weg hinüber
in die Ohnmacht empfand er Entzücken darüber, dass sie sich
Sorgen um ihn machte.
    «Ilacomylus», konnte er gerade noch
murmeln. Doch der Versuch, sich vorzustellen, endete jäh. Es wurde
dunkel um ihn.
Er erwachte in einer fremden Welt und von kleinen, spitzen Schreien.
Langsam klärte sich sein Blick. Er stellte fest, dass er auf dem
Samtüberzug eines geschnitzten Sofas lag. Sein Kopf wurde von
mehreren Kissen gestützt. Jemand hatte ihm den Mantel ausgezogen
und das Hemd über der Brust geöffnet, damit er mehr Luft
bekam. Auf einem Tischchen stand ein Glas mit einer roten
Flüssigkeit, offenbar Wein. Daneben funkelte eine Karaffe aus
Kristall. Alles in diesem Raum kündete von Wohlstand.
Wieder einer dieser kleinen Schreie. Sie war es! Sie hatte ein
verdrecktes Blatt in der linken Hand und fuhr mit dem Zeigefinger der
Rechten darauf herum, ihren Ausrufen nach hin- und hergerissen zwischen
wohligem Erschauern und Neugier. Zwei Männer standen neben ihr.
Zwei Köpfe folgten den Bewegungen der weiblichen Hand, einer mit
rotbraunen, der andere mit hellbraunen Haaren, und bildeten den Rahmen
für ihren dunklen Schopf. Die Männer mochten so um die 20
Jahre alt sein. Der dritte, der Jüngste, ebenfalls ein halber
Rotschopf, hielt sich ein wenig abseits.
«Da, da hinten liegt noch ein Arm! Puh, Philesius, das ist
gruselig. Wie könnt Ihr Euch nur mit dieser Mundus Novus, dieser
neuen Welt beschäftigen! Die Frauen dieser Wilden haben alle
nackte Brüste! Dann hier, im Vordergrund, nein wie schrecklich.
Bruno, schau, die Mutter mit dem Kind an der Brust – sie reicht
ihrem Sohn doch tatsächlich einen Menschenkopf als Mahlzeit. Seht
ihr, da hinten, auf dem Meer, das müssen die Pinta und die Nina
sein. Nein, die Santa Maria! Basilius, das dürfte dich
interessieren. Du beschäftigst dich doch mit Schiffen.»
«Ich beschäftige mich nicht mit Schiffen, ich werde auf
einer Karavelle in diese neue Welt reisen!», verkündete der
Jüngste im Brustton der Überzeugung.
«Unser Freund Philesius hier hat dir wohl den Kopf verdreht, mein
Sohn», erklärte in diesem Moment eine sonore Stimme, und ein
korpulenter Mann betrat erstaunlich behände den Raum. Er machte
den Eindruck eines gut situierten Menschen, der mit sich im Reinen ist.
«Du kommst aus dem Geschlecht der Amerbach, wir sind Drucker. Wir
drucken die Manuskripte über die neue Welt, ihre Erforschung
überlassen wir anderen.»
Der Junge zog ein beleidigtes Gesicht. Martin Waldseemüller
begriff, dass es sich hier vermutlich um einen alten Disput zwischen
Vater und Sohn handelte.
«Was habt ihr denn da so Spannendes», erkundigte sich der
alte Amerbach. Was er sah, gefiel ihm nicht. «Seid ihr denn von
allen guten Geistern verlassen? Marie Grüninger ist unser Gast,
ihr Onkel hat sie meiner Obhut anvertraut. Und nun lasst ihr zu, dass
sie sich solch schreckliche Szenen ansieht. Wie könnt ihr
nur!»
Sie hieß also Marie Grüninger. Nun kannte er ihren ganzen
Namen. «Grüninger» – das sagte ihm etwas. Was
nur? Sein Schädel schmerzte höllisch. Er konnte sich nicht
erinnern. Stattdessen dämmerte es ihm, dass es wohl langsam Zeit
wurde, sich bemerkbar zu machen. Er räusperte sich vorsichtig.
Niemand achtete auf ihn.
«Onkel Amerbach, dieser Druck kursiert überall. Selbst die
Kleinkinder sprechen über die neue Welt und ihre Bewohner. Das ist
in Straßburg auch nicht anders.»
«Trotzdem ist das kein Bild für eine junge Dame.»
Die junge Dame warf den Kopf nach hinten. «Ich habe in der
Druckerei meines Onkels Schlimmeres zu Gesicht bekommen. Ihr wisst,
dass er die Bilder liebt, und ihm werden die seltsamsten Holzschnitte
angeboten. Besonders die Heiligenbilder sind sehr grausam und blutig.
Er spricht oft mit mir darüber und zeigt sie mir. Außerdem
hat uns Philesius keineswegs den Kopf verdreht. Habe ich Euch nicht
unlängst zu ihm sagen hören, dass Ihr ihm fast ein wenig
böse seid, weil er De ora Antarctica über die

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