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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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eine Verbannung aus dem Theater für
alle Zeiten bedeutet.
    Meine Ohren durchsuchten alle
Geräusche im Theater. Sie muss hier sein, sie muss.
    Ein misstönendes Chaos entstand, als
das Orchester begann, die Instrumente zu stimmen. Die Logen füllten sich. In
den meisten hatten sechs Personen Platz: drei an der Brüstung, drei dahinter.
(Welche Anstrengung notwendig war, um die Bühne von dieser zweiten Reihe aus zu
sehen!) Überzählige Söhne und Töchter standen hinter ihren älteren Geschwistern.
In allen Logen brannte eine Lampe, sodass jede dieser Öffnungen wie eine eigene
kleine Bühne aussah.
    Und dann betraten sie ihre Loge,
gegenüber der Kaiserin auf dem zweiten Rang. Sie waren so nah, dass ich die
harten Sehnen an Gräfin Riechers Hals erkennen konnte, als sie Graf Riecher
hereinführte. Dann kam Amalia vor Anton – und mein Herz schwang sich in die
Höhe! Sie ist da. Vier weitere Abkömmlinge der Riechers folgten, aber ich hatte nur Augen
für Amalia, die rund war und Glanz ausstrahlte – das schönste Prachtexemplar,
das die Gräfin Riecher je hatte zur Schau stellen können, gleichgültig, wie
viele Kinder sie selbst geboren hatte. Amalia erhielt den ehrenvollen dritten
Platz in der ersten Reihe der Loge. Anton saß hinter ihr. Er legte eine Hand
auf ihre Schulter und lächelte, als wollte er sagen: Siehst
du? Siehst du jetzt, wie recht ich hatte?
    Ich war sicher, dass sie bald wieder
die Meine sein würde. Wenn Orpheus in Eurydikes Augen sah, würde Amor so
freundlich zu uns sein wie zu den sagenumwobenen Liebenden auf der Bühne.
    Dann schrie der Bengel, der vor
der Tür meines Maestros Wache stand, in die Höhle hinunter: »Guadagni ruft nach
seinem Jungen!« Der kleine Mistkerl stand oben an der Versenkung und streckte
die Hand nach seiner Belohnung aus. Ich lächelte und sagte, ich würde ihn am
nächsten Morgen bezahlen. Er grinste und stellte mir ein Bein, als ich
vorüberging.
    Ich stolperte in dem Augenblick durch
Guadagnis Tür, als er sie öffnete. Er hatte sich seinen Rock über die Schultern
gelegt und wirkte gelassen. »Ich bin bereit«, sagte er.
    Ich nickte, wusste aber nicht, was ich
tun sollte. Ich drehte mich zu den zahlreichen Bühnengehilfen um, die in
stummer Bewunderung des Sängers dastanden. »Er ist bereit«, sagte ich.
    Zum ersten Mal in meinem Leben
reagierte die Welt mit umgehendem Gehorsam auf meine Worte. Ordnung trat ein.
Wie riesige Fledermäuse flatterten die Furien zu ihren Verstecken in den
Nischen zwischen den Kulissen. Bühnengehilfen nahmen ihren Platz ein und
hielten den Mund. Der Chor eilte auf die Bühne. Eurydike kletterte auf ihre
Bahre und war tot. Auf unserer Seite des Vorhangs war alles still, als Gaetano
Guadagni auf die Bühne schritt.
    Ich folgte ihm. Meine Schritte fühlten
sich so schwer an, dass ich sicher war, die Kaiserin höchstpersönlich würde sie
hören. Der Lärm des Publikums im Zuschauerraum klang wie eine fremde Armee, die
vor den Toren stand – man fragte sich, ob man noch Zeit hätte zu fliehen!
Guadagni stellte sich in die Mitte der Bühne. Er kreuzte seine zu Fäusten
geballten Hände über der Brust. Sein Gesicht war vom Schmerz gezeichnet.
    Er nickte mir zu.
    Was sollte ich tun? Ich sah nach
links, nach rechts. Alle Bühnengehilfen und Chorsänger starrten mich an, aber
ihre leeren Blicke waren mir keine Hilfe. Tu es, sagten ihre Augen, alle
warten darauf, dass du deine Aufgabe erfüllst.
    Aber was erwartete man von mir? Sollte
ich weggehen? Sollte ich durch den Vorhang spähen und Gluck sagen, dass alles
bereit sei? Niemand hatte mir etwas gesagt! Ich hatte noch nie bei einer
Opernaufführung mitgewirkt!
    Dann fiel es mir wie Schuppen von den
Augen – der Rock. Er gehörte Guadagni, nicht Orpheus. Ich nahm ihm den Rock ab,
als würde ich einem schlafenden Baby die Decke wegnehmen.
    Ich eilte von der Bühne, Applaus
setzte ein. Gluck klopfte zweimal mit dem Taktstock und begann mit der
Ouvertüre. Immer noch bewegte Guadagni sich nicht. Sein Kopf war gesenkt. Die
Rampenlichter waren lediglich ein Stück in die Höhe gezogen worden, sodass sein
Gesicht nur schwach beleuchtet war. Der Chor in seinem Rücken war so stumm,
dass das Bild wie eine Beerdigung auf einem Gemälde wirkte.
    Die Ouvertüre endete. Der Vorhang
öffnete sich.
    Glucks Musik wurde zu einem
Trauermarsch. Neben mir hoben die Träger Eurydikes Bahre an und begaben sich
langsam auf die Bühne. Guadagnis Kopf blieb gesenkt, bis der Chor zu singen
begann. Dann hob er

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