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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Pfauenfedern, keine
Goldspitze, keine Perücke. Orpheus trug eine schlichte weiße Tunika, die über
seiner gerundeten Brust offen war.
    Ich stand hinter ihm. Er betrachtete
sich selbst, als er mit aufgeblähten Nasenflügeln einatmete, dann schloss er
die Augen, formte seinen Mund zu einem Kreis und atmete aus, als wollte er
vorsichtig eine Kerze ausblasen. Er musste die Trauer wachsen lassen, hatte er
mir erzählt, wenn wir sie in seinem Gesang hören sollten.
    Meine Zehen krümmten sich in den
Schuhen.
    »Signor«, fragte ich, als ich es nicht
mehr aushalten konnte. »Braucht Ihr mich?«
    »Musst du irgendwo anders hin?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich möchte Euch
nicht stören, das ist alles. Soll ich draußen warten?«
    Er zögerte, aber ich wusste, er würde
nie zugeben, dass er mich an seiner Seite brauchte. »Nun gut«, sagte er.
    Ich ging hinaus und stieß beinahe mit
vier Trägern zusammen, die die Totenbahre für Eurydike brachten. Ich verzog
mich, schnappte mir einen mageren Jungen – er schien nichts zu tun zu haben –
und befahl ihm, sich vor Guadagnis Tür zu stellen und aufzupassen. Wenn der
Sänger nach mir rief, sollte er den Befehl in Tassos Höhle weitergeben.
    »Und warum sollte ich das tun?«,
fragte der Junge. Obwohl ich ihn überragte, funkelte er mich an, als stünde ich
weit unter ihm.
    Ich durchsuchte meine Taschen. Leer.
Ich versprach ihm zwanzig Pfennig. Er nickte und nahm seinen Posten ein,
während ich in einer Versenkung verschwand.
    Unter der Bühne ruhte sich Nicolai auf
den Überresten von Tassos Bettstelle aus. Ich lächelte, denn obwohl das Bett
durch sein Gewicht in ein Dutzend Einzelteile zerlegt worden war, schien er
sich wohl zu fühlen. Remus saß neben ihm auf dem Fußboden und lehnte sich an
den kalten Eisenofen. Tasso schwirrte in dem dunklen Raum umher, kontrollierte
Seile und ölte Blöcke. Gleich darauf sprang er in die Höhe und steckte seinen
Kopf durch eine Versenkung, um den begriffsstutzigen Bühnengehilfen zuzurufen,
dass sie die Lampen anzünden sollten, und dann hing er da – ein Körper ohne
Kopf – und zuckte vor Schreck zusammen, als sie beinahe den Vorhang in Brand
setzten. Nicolai schien gar nicht zu bemerken, dass der kleine Mann zu tun
hatte; er wollte jedes Seil, jede Versenkung erklärt bekommen.
    »Und wofür ist die Winde da vorne?«,
fragte er. »Werden damit die Gewänder der Kaiserin in die Höhe gehoben, damit
alle ihre Unterröcke sehen können?«
    »Das ist der Aufzug für das
Rampenlicht!«, knurrte Tasso voller Verachtung für Nicolais Unwissenheit.
    »Und das Seil dort?«, fragte Nicolai
und blinzelte im Licht der trüben Lampe.
    »Damit wird der zentrale Hubboden
bedient!«
    »Erstaunlich, wie viel er weiß«, sagte
Nicolai zu Remus.
    Remus sah Nicolai misstrauisch an.
»Fass nichts an!«, sagte er im Flüsterton, weil Tasso ihn nicht hören sollte.
    Nicolai hielt die Hände in die Höhe.
Tasso hatte sie am Ende doch nicht gefesselt. »Ich bin genauso unschuldig wie
die Kaiserin.«
    Dass Nicolai strahlte, machte mich
sehr glücklich. Ich umarmte ihn, als ich an ihm vorbeikroch.
    »Wo willst du hin?«, fragte er.
    »Sehen«, sagte ich über die Schulter.
»Ich will es sehen!«
    Vor ein paar Tagen hatte ich ein
winziges Guckloch entdeckt, das Tasso benutzte, um Gluck zu beobachten. Dorthin
kroch ich jetzt und spähte hinaus. Ich hatte noch nie eine so großartige
Versammlung gesehen. Im Ochsenpferch unterhielt sich laut eine Gruppe der
feinsten Männer der Welt. Die Leute in den Logen müssen jedes Wort gehört
haben, was natürlich beabsichtigt war. Über ihren Köpfen klirrte der von Kerzen
übersäte Kronleuchter mit der Resonanz so vieler Stimmen.
    Zu meiner Linken befand sich die
königliche Loge, gleich hinter dem Orchester. An diesem Abend war sie mit einer
purpurroten Markise überdacht, als würde ein Nieselregen im Theater erwartet.
In der Mitte saß drall und rosig die große Frau, Mutter von sechzehn Kindern
und eines Kaiserreichs. Ihre Wangen glänzten, als hätte sie jemand geschlagen.
Der Kaiser an ihrer Seite – die Nase knollig, der Mund dünn und schmal – war
eine blasse, farblose Erscheinung. Sie waren von einem Kranz ihrer Kinder
umgeben.
    Aber ich war nicht an diesem Guckloch,
um die Kaiserin zu sehen.
    Hunderte von Augen blickten vom
doppelten Rang des Paradis hinab, als zögen sie es in Betracht
hinunterzuspringen. Vielleicht hätten sie eine Verletzung riskiert, aber die
Landung auf einer Herzogin hätte natürlich

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