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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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Karten – die ihnen erlauben würden, von
den Rängen hinunterzuspähen, oder auf den harten Bänken im hinteren Teil des
Parketts zu sitzen – erlaubten ihnen auch, dieselbe Luft wie die Kaiserin zu
atmen, mit ihr gesehen zu werden und mit jenen gesehen zu werden, die mit ihr
gesehen wurden. Diese Männer, begleitet von ihren Frauen, waren einfache
Anwälte, Sekretäre, Ärzte, Handwerker. Sie warteten ungeduldig, während auf der
anderen Seite unzählige Adlige, deren Gesichter allen bekannt waren, durch den
Eingang spazierten.
    Ich kannte sie inzwischen auch sehr
gut. Da war seine Exzellenz, Herzog Herberstin, mit seinen acht Töchtern, die
alle dumm und unansehnlich, aber sehr begehrte Partien waren. Der Botschafter
von Spanien, Herzog Aguiliar, kam nach ihnen und war offensichtlich schlechter
Stimmung, denn er hatte eingewilligt, seine Loge mit dem langweiligen Fürsten
Galizin aus Russland zu teilen. General Braun war in Preußen und kurz davor, an
Wundbrand zu sterben, aber seine Frau war da und lächelte. Der alte Herzog
Grundacker Staremberg wartete verwirrt auf einen seiner Söhne oder Enkel, der
ihn in seine Loge führen sollte, denn er konnte sie allein nicht mehr finden.
Obwohl die Herzogin Hazfelda in einer prächtigen Kutsche vorfuhr, konnte sie
sich in dieser Saison die vierhundert Gulden für ihre Loge nicht leisten, und
deshalb trat sie im Gefolge der Prinzessin Lobkovitz ein, die sich erbarmt
hatte und die pummelige Herzogin hinter einem ihrer Söhne sitzen ließ. Dieser
war besonders hoch aufgeschossen. Inmitten dieser Parade von pfirsichfarbenem
Musselin und gepuderten Perücken gab es auch Personen wie Herrn Buthon mit
seiner hinreißenden Kindfrau, die keinen Titel hatten. Buthon hatte sich nicht
die Mühe gemacht, einen zu kaufen.
    Mit dem Wein für Guadagni in der einen
Hand flitzte ich durch das Foyer, während ich mit der anderen Prinzessinnen
abwehrte. Überall Spitze, Rüschen, blitzende Orden. Die wogende Menge
verursachte mir ein Schwindelgefühl, sodass ich einen Moment die Augen schloss.
Ich spürte, wie mir Wein aufs Handgelenk spritzte.
    Die Besucher verweilten in den Gängen
vor ihren Logen, plauderten und drängten sich in dem engen Raum aneinander. Ich
drückte mich an der Wand entlang und versuchte, die weiten Röcke nicht mit
meinen ungeschickten Knien zu streifen. Noch mehr Wein schwappte über den Rand
– oh je, ein blutiger Fleck auf dem Hintern einer Herzoginwitwe! Endlich ließ
ich die letzte Loge hinter mir und erreichte den Bühneneingang.
    Hier war die Aufregung noch größer. Im
hinteren Teil der früheren Sporthalle war wenig Raum für all die verborgenen
Machenschaften, die hinter einer Bühne vor sich gehen. Musiker strömten herein
und hielten ihre Instrumente an die Schultern wie Soldaten ihre Gewehre. Tassos
Bühnengehilfen füllten die Lampen mit Öl und fetteten die Nuten für die Rahmen
der Kulissen ein. Ein letztes Mal kehrten sie die Bühne aus; sollte Guadagni
stolpern und hinfallen, würde er sie mit Sicherheit an die Bären in der Menagerie
der Kaiserin verfüttern. Die Furien schmierten sich schwarze Fettschminke ins
Gesicht. Tasso steckte den Kopf aus einer Versenkung und rief: »Wenn irgendwer
Quaglios Bühnenbilder anfasst, beiße ich ihm seine schmutzigen Finger ab!«
    In ihrer beengten Garderobe trillerte
Signora Clavarau Arpeggios, während ich durch einen Spalt in Signora Bianchis
Garderobentür sah, dass Eurydike mit weißer Farbe geschminkt wurde, damit sie
in der ersten Szene der Oper auch wirklich tot aussah. Inzwischen hatte ich die
Hälfte des Weins verschüttet und hütete den Rest wie mein eigenes Blut.
    Guadagni hatte den einzigen Raum, der
größer als ein Kabuff war. Ich klopfte, und obwohl er nicht antwortete, ging
ich hinein. Jeder andere, der es gewagt hätte einzutreten, wäre verflucht
worden, aber mich wollte er sehen – die Art und Weise, wie er erwartungsvoll
aufsah, verriet mir das. Er saß mit dem Rücken zu mir und betrachtete mich in
seinem Spiegel. Sein Anblick jagte mir einen Schreck ein, denn seine Augen
waren geschminkt, seine Falten mit Creme geglättet, und er sah zehn Jahre
jünger aus. Einen Moment lang glaubte ich, ich sähe mich selbst im Spiegel.
    Aber dann sprach er. Es war nicht
meine Stimme. »Ist dem Kaiserreich der Wein ausgegangen?«
    Ich schüttelte den Kopf und reichte
ihm das Glas. Er nahm einen Schluck und stellte es hin. Er sah in den Spiegel.
Gluck hatte seine Pläne verwirklicht: Es gab keine

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