Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
Vom Netzwerk:
schob dem gelehrten Mann zum Trotz seine
Unterlippe vor.
    »Die Geschichte ist mehr als
zweitausend Jahre alt«, sagte Remus. »Ein sehr alter Mythos. Sie hat gar keinen
Sinn mehr, wenn die Götter Orpheus immer wieder gnädig sind. Das ist absurd.«
    Tasso sah böse aus. »Du glaubst
einfach nicht an die Liebe.« Er piekte Remus mit seinem kurzen Zeigefinger in
die Brust.
    Remus lächelte freundlich. Er zuckte
mit den Schultern und wollte gerade antworten, kam aber nicht dazu, denn in
diesem Augenblick sprach Nicolai. »Ich glaube an die Liebe«, sagte er. Ich
hatte angenommen, der Riese würde ein wenig schlafen, aber er setzte sich in
seinem Sessel auf und sah stärker aus, als ich ihn seit meiner Ankunft in Wien
je erlebt hatte. »Und um das zu beweisen«, fuhr er fort, »komme ich zu der
Premiere.«
    Das Licht der Kerze schien
aufzuflackern und sein Lächeln zu beleuchten.
    »Die Premiere?«, murmelte Remus. »Was
willst du damit sagen, die …«
    »Ja!«, rief ich und sprang auf, obwohl
mir noch ein wenig schwindlig war. Ich ging zu Nicolais Sessel. »Du musst
kommen – du verdienst das vor allen anderen. Du wirst …« Ich brach ab, da mir
erst jetzt die vielen Hindernisse bewusst wurden. Nicolais Lächeln verschwand
nicht. »Aber … aber wie sollen deine Augen das Licht ertragen?«
    »Du ziehst mir einen Sack über den
Kopf, wie es sich für einen Sünder gehört, und marschierst mit mir durch die
Straßen«, sagte er. »Im Theater wird es dann dunkel sein.«
    Remus schüttelte den Kopf. »Nein, das
ganze Theater ist hell erleuchtet«, sagte er. »Damit alle die Kaiserin sehen
können.«
    »Aber nicht überall«, sagte Nicolai.
»Nicht unter der Bühne.«
    Tasso sprang auf die Füße. »Nein«,
sagte er. »Nein, nein. Das ist nicht erlaubt.« Er griff mit den Händen in die
Luft. »Die Kaiserin würde mir den Kopf abreißen.«
    »Mach dir keine Gedanken um deinen
Kopf«, sagte Nicolai lächelnd. »Es ist dein Herz, das wir brauchen!«
    Tassos Blick flitzte von Nicolai zu
Remus, dann zu mir. Er sah zur Tür – eine Möglichkeit zur Flucht. Er kaute auf
seiner Lippe herum, aber dann sah er wieder auf die Stelle, wo ich gesungen
hatte, und sein Gesicht hellte sich auf.
    »Aber du musst versprechen, nichts
anzufassen«, sagte er warnend.
    »Du kann mir die Hände hinter dem
Rücken fesseln«, sagte Nicolai. »Ich brauche nichts als meine Ohren. Das, mein
lieber Tasso, verspreche ich dir.«

XIII.
    Es war der fünfte Oktober
1762 – heute kaum vierzig Jahre her, wenn wir die Zeit nach den Umdrehungen der
Sonne berechnen, aber nach jedem anderen Maßstab so viel länger. Wir waren so
jung. Der kleine Napoleon musste noch sieben Jahre auf seine Geburt warten und
noch einmal dreißig, um Frankreich zu erobern. In jenem Jahr schrien
Robespierre und seine terreur noch in einem Kinderbett in Arras. Friedrich der Große
war ein einfacher Friedrich. Amerika war ein ferner Ort, wo Baumwolle wuchs,
und keine Nation, die George III. mit einer Revolution in Verlegenheit bringen
würde. Unsere Helden hießen Bach und Vivaldi. Noch hatte niemand etwas von
Beethoven gehört, denn er war noch nicht geboren. Der kleine Mozart war sechs,
und an jenem Abend war er nur zehn Meilen von dem Ort entfernt, wo sich unsere
Geschichte ereignete; er war dabei, in die kaiserliche Stadt zu eilen, um auf
seiner winzigen Violine für die Kaiserin zu spielen. Heute ist Amadeus bereits
fünfzehn Jahre tot, obgleich er uns alle überleben wird.
    Im Jahr 1762 gab es noch viele
Träumer. Und einer der gläubigsten Träumer trug an jenem Oktoberabend einen
Sack über dem Kopf. Er wurde mit den Füßen zuerst in eine Kohlenrutsche
geschoben. Obgleich sie möglicherweise die breiteste Kohlenrutsche im Kaiserreich
war, reichte ihre Breite nicht ganz für einen Träumer von der Größe eines
Bären. Seine beiden Freunde pressten ihn so heftig in die Öffnung, dass
verschiedene gut gekleidete Passanten bestürzt stehen blieben. Dann zerriss
Stoff, es gab einen Knall, und unser Träumer glitt in die Rutsche.
    Ich ließ meine Freunde in
Tassos Höhle zurück und eilte in das Theater. Mein Maestro hatte mich
losgeschickt, um Wein für ihn zu holen, und würde mich ausschelten, wenn ich
noch länger säumte. Das kleine Foyer war so überfüllt, dass das Grollen der
Stimmen den Boden erzittern ließ. Es gab zwei Eingänge in den Theatersaal. Auf
der einen Seite rempelten sich die normalen Leute. Sie schwenkten ihre
Eintrittskarten wie Fahnen, denn diese

Weitere Kostenlose Bücher