Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
soll Wien erfahren, dass
Orpheus lebt.«
Ich trat leise den Rückzug an – wie
ein Kindermädchen, das ein schlafendes Kind nicht wecken will, aber sobald ich
die Tür hinter mir geschlossen hatte, rannte ich zu der nächsten Versenkung.
»Die Botschaft!«, rief ich in die Dunkelheit hinab. »Die Botschaft!«
Nicolai hatte sie unbedingt halten
wollen, weil er sein Herz noch einmal mit einer so glühenden Liebe wie der
unseren wärmen wollte. Auf meinen Ruf holte Remus in der Unterbühne das Stück
Papier und reichte es mir hinauf. Es sah jetzt weniger königlich aus, war an
einer Ecke zerknittert und das Wachssiegel, das Remus Stunden zuvor angebracht
hatte, schien von Nicolais verschwitzten Fingern etwas verwischt zu sein. Aber
das war gleichgültig. Ich eilte in den Korridor und ließ meine Zweifel zurück.
Halb Wien schien sich in den Gängen zu
tummeln. Wenigstens vier Herzöge und ein Prinz verfluchten mich, weil ich ihnen
meinen Ellenbogen in den ausladenden Bauch gestoßen hatte, bevor ich auch nur
an die Treppe gelangt war. Ich hörte, wie Wein geschlürft wurde, und es war,
als würden mir die Zungen ins Ohr gesteckt. Endlich war ich an der Loge der
Riechers angelangt. Die Tür stand offen und mehrere Männer wetteiferten darum,
den Kopf hineinzustecken, weil sie gerne eine Audienz bei einer der größten
Familien Wiens gehabt hätten.
»Bitte um Pardon«, sagte ich und schob
einen Mann beiseite, dessen Kopf in der Nähe meines Ellenbogens war. Der
nächste Mann widerstand auch dann noch, als ich ihm auf den Fuß trat. Ich zog
an seinem Rockschoß. Als er sich umdrehte, um mir entgegenzutreten, schlüpfte
ich an ihm vorbei.
»Eine Botschaft für Amalia« – ich
schluckte ihren früheren Namen hinunter – »Riecher.«
Eine peinliche Stille trat ein, und
ich merkte, dass ich ziemlich laut gerufen hatte. Ich errötete. Nicht nur in
der Loge drehten sich die Köpfe zu mir um, sondern auch auf der anderen Seite
des Theaters. Der kalte Mond von Gräfin Riechers Gesicht beschien mich. Auch
Amalia wandte sich um, und mein Herz raste. Sie musterte mich – denn meine
Stimme hatte eine Erinnerung in ihr wachgerufen.
»Von Gaetano Guadagni«, sagte ich so
leise wie möglich. Amalias Augen blieben noch einen Augenblick auf mir liegen,
aber dann verdunkelte sich ihr fragender Blick: Ihre Ohren hatten sie
getäuscht. Sie wandte sich ab und wischte sich dabei mit der Hand eine Träne
weg.
Gräfin Riecher runzelte die Stirn,
selbst als alle anderen in Hörweite grinsten.
»Er soll es mir geben«, sagte die
Matriarchin. Sie streckte drei weiße Finger aus, gekrümmt wie eine Vogelklaue.
»Ich soll der Dame den Brief
persönlich in die Hand geben«, rezitierte ich, genau wie Remus mich instruiert
hatte.
Jemand murmelte etwas über die
Unverschämtheit des Kastraten.
»Sie kann ihn ruhig annehmen«, sagte
der würdevolle Graf Riecher, ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Das ist doch
nur harmlose Bewunderung. Schließlich ist der Mann ein Soldat ohne Schwert.«
Das ließ die gesamte Loge in Gelächter
ausbrechen. Selbst Gräfin Riecher lächelte verhalten. Alle blickten auf Amalia,
deren Hände in ihrem Schoß lagen. Immer noch wandte sie mir den Rücken zu, nur
ihr Kopf war halb zur Seite gedreht.
»Meine Liebe«, flüsterte Anton ihr ins
Ohr, »du kannst es nicht ablehnen. Sieh es doch als Ehre an. Er hat dich von
der Bühne aus bewundert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will den
Brief nicht«, sagte sie.
Bevor ich Widerspruch einlegen konnte,
griff Anton nach der Botschaft. Er fingerte am Siegel herum, brach es und
begann, das Papier auseinanderzufalten.
»Nein«, sagte ich, hilflos in der Tür
zur Loge stehend. Eine kurze Vision: Ich springe ihn an und reiße …
Aber Amalia drehte sich um und griff
schnell nach dem Brief. »Er ist nicht für deine Augen bestimmt«, sagte sie. Das
brachte Graf Riecher abermals zum Lachen, und die anderen taten es ihm nach.
Amalia öffnete den Brief und begann
still zu lesen. Ich hatte ihn an diesem Tag schon ein Dutzendmal gelesen und
kannte jedes Wort auswendig:
Liebe Amalia,
es ist von größter Wichtigkeit, dass Du Dir keine
Überraschung anmerken lässt, wenn du die folgenden Worte liest. Ich bin am
Leben – dein Moses. Ich liebe dich immer noch und bin gekommen, um dich zu
holen, wenn du mich noch haben willst. Wenn Orpheus Eurydike in die Augen
sieht, lass dir einen Vorwand einfallen und komm heraus. Ich warte vor dem
Theater.
Sag ihnen, dass Du diesen
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