Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
mir.
»Tasso«, sagte ich. »Das ist Amalia.«
Der kleine Mann musterte sie von oben
bis unten. Als sein Blick auf ihren gerundeten Bauch fiel, stieß er einen
Quiekser aus. Wir hatten ihm nichts von unserem Plan erzählt, und jetzt
betrachtete er jeden von uns mit einem so zornigen Ausdruck, wie ich ihn noch
nie auf seinem kleinen Gesicht gesehen hatte. Einen Moment lang befürchtete
ich, dass er Guadagni und Gräfin Riecher persönlich aufsuchen würde.
Er ließ die Tür hinter sich zufallen,
sie klapperte gegen den verformten Rahmen. Er bedachte jeden seiner Freunde mit
einem Kopfschütteln, und dann trat er an Amalias Seite und griff nach ihrem
Handgelenk. Sein Kopf reichte nur bis zu ihrem Ellenbogen. Er hob ihren Arm in
die Höhe, hielt ihn mit beiden Händen über seinem Kopf – wie ein Kellner, der
ein Tablett trägt – und führte sie erst zur Tür, dann um Nicolai herum, an
einem Bücherstapel vorbei, zwischen zwei umgedrehten Kaffeetassen hindurch und
um einen dunklen Fleck auf dem Teppich herum, bis er sie vor Nicolais Sessel
hinstellte. Dann drehte er sich zu uns um. Wir hatten uns nicht bewegt. Er sah
uns mürrisch an. »Komm hierher«, stieß er aus. »Sofort.« Er zeigte auf den
Boden neben ihr. Als ich kam, half er mir, sie langsam und vorsichtig in den
bequemen Sessel zu setzen. Er zog ihr die Schuhe aus und befahl: »Massier ihr
die Füße.«
Tasso nickte, als ich skizzierte,
wie die gegenwärtige Lage entstanden war und was noch kommen sollte, und
Nicolai meine Erzählung ausmalte. Der kleine Mann senkte den Kopf, während wir
sprachen, sodass er zu schlafen schien, als wir fertig waren. Wir schwiegen
verwirrt.
Nur Amalia verstand, worum es ging.
»Tasso, kommt Ihr mit?«
Er sah zu ihr auf. »Vielleicht«, sagte
er.
»Aber Tasso«, sagte ich, »du würdest
das Theater doch nicht verlassen!«
Ein Achselzucken. »Es gibt noch andere
Theater.«
»Und ob!«, sagte Nicolai und streckte
die Arme aus. Remus zuckte zusammen, als Nicolais Finger sein Ohr streiften.
»Wir brauchen auch jemanden, der unsere Kutsche fährt! Tasso, kannst du die
Peitsche schwingen?«
»Pferde sind brutale und dumme Tiere«,
sagte er. »Aber ich weiß, wie man sie lenkt.«
Das war also abgemacht. Wir würden
einen oder zwei Monate in Spittelberg bleiben – nur so lange, bis das Kind
geboren war – und dann in unserer Verkleidung als Patient und Gefolge über die
Alpen nach Venedig reisen. Wir entfernten Bücher und Staub aus Remus’ winzigem
Zimmer, damit Amalia es bequem hatte. Erst kurz vor der Morgendämmerung legte
ich mich neben sie auf das Bett und wir sahen uns in die Augen.
»Du lebst«, flüsterte sie wohl zum
hundertsten Mal in dieser Nacht. Sie fuhr mit der Hand durch mein Haar und
betrachtete jeden meiner Gesichtszüge. »Wenn ich von dir geträumt habe, träumte
ich von dem kleinen Jungen oder von einem Schatten. Ich sollte böse auf dich
sein: Du hast mich jahrelang angelogen, du Narr.«
»Aber ich …«, begann ich, und obwohl
sie mir Zeit ließ, konnte ich die Worte nicht finden, um meine Entschuldigung
zu formulieren, und auch nicht den Mut, sie auszusprechen. Als ich schließlich
vor Scham die Augen von ihr abwendete, lächelte sie und zog mein Gesicht an
ihres.
Endlich schliefen wir ein. Ich schlief
in dem schmalen Bett neben ihr, bis ich auf den Boden rollte, wo eine Decke auf
mich wartete. So geschah es jede Nacht. Im Zimmer gab es keine Dekoration, nur
ein einziges kleines Fenster, und deshalb hängte Nicolai am nächsten Tag ein
Kreuz über das Bett, und Tasso tauchte mit Seidenvorhängen auf, die er aus
alten Theaterkostümen gemacht hatte. Remus schlief auf dem Diwan; sein
Schnarchen hielt uns alle wach, aber es machte uns nichts aus, denn während wir
wach lagen, träumten wir von unserer glücklichen venezianischen Zukunft: von
Möwen, die über den Kanälen schrien, von Gondeln, die an die Kaimauern stießen,
von Opernklängen, die durch die Luft schwebten.
XVII.
Remus und Tasso fanden eine
heruntergekommene Postkutsche, die hinter einer der Spittelberger Spelunken
verrottete. Ich ging mit ihnen, um sie zu besichtigen, und war sehr entmutigt:
nur noch ein heiles Rad, überall abblätternde Farbe, kein Glas in den Fenstern.
»Wir brauchen das Gold nur, bis wir in
Venedig sind«, erklärte Remus. »Danach wird Moses singen. Warum kaufen wir
nicht etwas weniger … Kaputtes?«
»Etwas Neueres?«, schlug ich vor.
Tasso hob die Augen und sah mich an,
dann Remus. Er schüttelte den
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