Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
Kopf. Er ließ die Tür an der einen verbliebenen
Angel hin und her schwingen. Sie quietschte wie ein betrunkener Sopran. »Nein«,
sagte er. »Die hier ist gut. Nehmt sie und bezahlt den Preis.«
Tasso war ein Genie, Remus und ich nur
seine dusseligen Bühnengehilfen. Der Rahmen war noch stabil, und darauf baute
er die überzeugendste Arztkutsche, die je geschaffen wurde. Als sie fertig war,
war sie riesig und dunkel und hatte kleine Fenster mit grauen Vorhängen. Im
Inneren errichteten wir ein großes gefedertes Bett für Nicolai, ein weiteres
mit Vorhängen für Amalia und ihr Kind, und außerdem brachten wir sechs Haken
für Hängematten an, sollten wir auf unserer Reise einmal keinen Gasthof für die
Nacht finden. Mit Nägeln befestigte Tasso einen kleinen Ofen auf dem Boden und
bohrte ein Loch in die Decke für einen Rauchabzug. Trotz ihrer Größe fuhr die
Kutsche auf ihren neuen Blattfedern so gleichmäßig, als schwebte man auf einem
Daunenbett. Die großen Räder malte ich schwarz und golden an.
Als Tasso auf seinen Kutschbock stieg,
machte Remus mich auf eine optische Täuschung aufmerksam: Der kleine Mann
schien Normalgröße zu haben, und das riesige Vehikel schien doppelt so groß zu
sein wie die prächtigste Kutsche der Kaiserin. Wir kauften die vier größten und
zahmsten grauen Stuten, die wir finden konnten, und stellten sie zusammen mit
der Kutsche am Gasthof unter, bis wir zur Abreise bereit waren. Nicolai
strapazierte seine Augen, als er in seinem Sessel sitzend ein Schild malte, auf
dem stand: »Dr. Remus Mönch: Vorsicht – schreckliche Krankheiten!« Wir hängten
das Schild an die Tür der Kutsche.
Für Amalia kauften wir bäuerliche
Kleidung, die wir mit Holzkohle schmutzig machten, damit sie keinen Verdacht
erregte. Früh am Morgen, wenn wir nicht allzu große Angst hatten, gesehen zu
werden, trug Amalia ihren Umhang und wir spazierten umher, um frische Luft zu
schnappen. Ich führte sie um Berge von verfaulendem Kohl herum. Wir sprachen
von unserer Zukunft: von Italien und seinen Städten, von Paris und vom fernen
England, von den größten Opernhäusern der Welt, deren Namen wir aufsagten wie
Zaubersprüche: Teatro San Carlo, Teatro della Pergola, Teatro San Benedetto,
Teatro Capranica, Teatro Comunale, Teatro Regio, Covent Garden, die Hofoper.
Auf den Straßen trafen wir um diese Zeit nur Kinder. Sobald die Sonne aufging,
kletterten sie durch die Fenster in die verlassenen Häuser, hüpften die Wege
entlang oder wurden von ihren Müttern zur Tür hinausgescheucht. Ältere Kinder
zogen zahlreiche jüngere Geschwister hinter sich her. Wenn die Kinder um uns
herumtobten, musterte ich ihre lächelnden Gesichter. Würde unser Kind
vielleicht aussehen wie der Junge da? Oder wie das Mädchen dort?
Eines Tages teilte Amalia mir mit, sie
würde gerne für kurze Zeit in die Stadt gehen, um ein Geschenk für Nicolai zu
kaufen. Am Tag zuvor hatte sie sich das Leinenband mit den Zahlen ausgeliehen,
das Tasso benutzte, wenn er etwas abmessen musste. Sie hatte es Nicolai um den
Kopf gelegt und Zahlen auf ein Stück Papier gekritzelt. Jetzt band sie sich das
Haar mit einem Tuch zurück und machte ihr Gesicht mit Asche schmutzig, bis sie
wie eine Küchenmagd aussah, und wir fuhren durch das Burgtor zum Fischmarkt, wo
ich in der Kutsche auf sie warten sollte.
Sie verschwand in einem Geschäft, auf
dessen Ladenschild »Linsen« stand. Fischgestank wurde durch die kühle Luft
herangetrieben und verursachte mir Übelkeit. Argwöhnisch sah ich die Straße
hinauf und hinunter, falls Gräfin Riechers Zerberus oder ein anderer Spion
auftauchen sollte, um mir meine Liebste zu stehlen. Ein alter Mann schob eine
quietschende Karre, in der sich fettige Seifenstücke türmten. Ein schmutziger
Junge hielt Zeitungen in der Hand und rief: »Niederlage in Schlesien! Der Krieg
steht kurz vor dem Ende!« Eine von einem ausladenden Umhang bis an die Ohren
verhüllte Frau betrat denselben Laden wie Amalia, und ich war plötzlich sicher,
dass es Gräfin Riecher war. Aber gerade als ich den Mut aufgebracht hatte, mich
ihr entgegenzustellen, kam Amalia mit geröteten Wangen heraus und sah sehr
zufrieden aus. Sie hatte ein kleines Paket unter dem Arm.
Am Nachmittag packte sie ihr Geschenk
aus: zwei runde dunkle Gläser, die an einem Drahtgestell befestigt waren.
»Sitz still«, sagte sie zu Nicolai,
als er versuchte, die Vorrichtung mit seinen ungeschickten Händen zu befühlen.
»Ich setze sie dir auf.«
Seine Augen
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