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Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells

Titel: Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harvell
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gelang – wenn
ich ein Vater für das Kind sein konnte, das in ihrem Bauch wuchs –, würde die
Scham wegen meines eigenen Makels schließlich weichen und zu Nichts werden.
Obwohl ich nicht heilen konnte, was zerstört worden war, würde ich damit
aufhören, meinen Verlust zu betrauern.
    Bald darauf begann der kalte November.
Unsere Tage schienen hell und einfach zu sein; wir vergaßen beinahe, dass wir
vor etwas oder jemandem auf der Welt Angst hatten. Wir vergaßen, dass wir in
derselben Stadt lebten wie Menschen, die uns sehr hassten. Spittelberg war
unsere Zuflucht. Die Männer und Frauen, die seine schmutzigen Straßen
bevölkerten, waren himmelweit entfernt von den Abendgesellschaften der Riechers
und von Guadagnis Konzerten.

XVIII.
    »Etwas ist anders, Moses«,
sagte Amalia eines Morgens. Sie war ganz rund geworden, und ihr angeschwollenes
Gewebe dämpfte das Klingen ihres Körpers. Ihr Hinken war selbst dann sichtbar,
wenn sie nur langsam durch die Wohnung schlurfte. Sie stand vor mir, und ihr
dünnes Kleid fiel über ihren Bauch wie ein Wasserfall über einen Felsen. Ich
sah, dass sich die Wölbung ihres Bauches gesenkt hatte.
    »Tut es weh?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte sie. Sie legte ihre
Hände seitlich auf den Bauch. »Überhaupt nicht.«
    Aber an diesem Nachmittag begann der
Schmerz – ein leise schleichender Schmerz. Ich hörte ihn in der Schärfe ihres
Atems, wenn sie sich bewegte. »Mir geht es gut«, sagte sie immer wieder,
während wir sie in stummer Angst anstarrten. Remus, Nicolai und ich saßen vor
ihr im Wohnzimmer. Ich fragte Amalia, ob sie gerne einen Tee hätte oder Äpfel
vom Obsthändler, ob Remus ihr vielleicht vorlesen oder Nicolai ihr noch einmal
vom Leben in Italien erzählen sollte oder …
    »Halte einfach meine Hand und stelle
mir keine Fragen mehr«, sagte sie. Aber dann schnaufte sie, als würde jemand
ihr eine Hand auf den Bauch pressen. Mit aufgestützten Armen hievte sie sich
aus dem Sessel und hob ihren Bauch in die Höhe, als wolle sie ihr Baby an die
Decke halten.
    Ich versuchte ihr dabei zu helfen.
    »Lass mich los!«, rief sie keuchend.
    Remus sprang auf und ging zur Tür.
»Ich hole Tasso«, murmelte er und war verschwunden. Ich hatte noch nie erlebt,
dass er sich so schnell bewegte.
    Als Tasso kam, rannte er die Treppe
hinauf und ließ Remus weit zurück. Der kleine Mann war das älteste von dreizehn
Kindern; Geburten waren in seinem Zuhause ein so regelmäßiges Ereignis gewesen
wie die Fastenzeit. Er nahm Amalias Hände zwischen seine, rieb sie und sagte,
es würde noch viele Stunden bis zur Geburt dauern – wir würden noch warten,
bevor wir nach der Hebamme schickten. »Stell dich neben sie«, befahl er, »halt
ihre Hand.« Ich tat, was er sagte. Der Raum begann sich zu drehen.
    »Um Gottes willen, Moses«, sagte
Remus, »du musst atmen, sonst wirst du ohnmächtig.«
    Amalia hielt sich meinen Handrücken an
ihre heiße Wange. »Moses«, sagte sie, »du darfst dir keine Sorgen machen. Mir
geht es gut.«
    Aber ich machte mir Sorgen. Meine
Rippen wollten sich nicht ausdehnen, und ich konnte nur atmen, wenn ich die
Schultern hob. Ich biss mir auf die Unterlippe, bis sie blutete. Mein eines
Knie sackte unter mir weg, und Remus brachte mir einen Stuhl. Dann streichelte
Amalia meine Hand.
    »Sind alle von seiner Sorte so
empfindlich?«, hörte ich Tasso Nicolai im Flüsterton fragen.
    »Nein, nein«, flüsterte Nicolai
zurück. »Er war immer so. Auch bevor er … na ja, du weißt schon. Ich vermute,
es kommt von seiner Kindheit in den Bergen – er hat zu nahe an der Sonne
gelebt.«
    Tasso betrachtete mich und nickte.
    Nach einigen Stunden wurden
Amalias Schmerzen schlimmer. »Ich glaube«, sagte sie keuchend und schloss die
Augen, »ich möchte mich ins Bett legen.«
    Wir sprangen alle auf, aber Tasso
nickte mir zu. »Nur du.« Also half ich ihr ins Bett, während Tasso die Treppe
hinuntersprang und losflitzte, um die Hebamme zu holen.
    »Sing für mich, Moses«, bat Amalia.
Ich kniete neben ihr und wählte eines der kirchlichen Lieder aus, die ich für
ihre Mutter gesungen hatte, und plötzlich konnte ich wieder atmen. Sie schloss
die Augen und bewegte ihre Zehen, als sie meine Stimme durch ihre geschwollenen
Beine strömen ließ. Sie seufzte, als der Gesang über ihren Rücken vibrierte und
ihr Inneres lockerte. Ihre Atmung verlangsamte sich, und sie öffnete die Augen
und lächelte. Das ist alles, was ich je wollte, sagte ihr Blick zu mir, und während ich in

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