Der Kastrat - Harvell, R: Kastrat - The Bells
her. Als ich ihn
fragte, worüber er sich Sorgen mache, überreichte er mir diese Schatulle. ›Für
den Fall‹, sagte er, ›dass du eines Tages nach Hause kommen möchtest.‹ Und um
den Anstand zu wahren, fügte er dann hinzu: ›Um uns zu besuchen, meine ich.‹
Zweitausend Gulden für einen Besuch!«
Ich schloss das Behältnis.
»Es genügt, wohin auch immer wir
fliehen wollen«, sagte sie. »Aber fliehen müssen wir. Wenn sie zurückkommen und
hören, dass ich dort war, werden sie nicht glauben, dass ich mich verirrt habe
oder entführt wurde. Sie werden nicht nach einer Ehefrau und Tochter suchen.
Sie werden eine Verräterin jagen.«
Zwei Stunden lang fuhren wir durch
Wien und überdachten unsere Fluchtmöglichkeiten. Zweimal wechselten wir die
Kutsche, um sicherzugehen, dass wir keine Spuren hinterließen.
»Die Straßen, die aus Wien
herausführen, sind nicht sicher«, sagte sie. »Graf Riecher hat überall Spione.
Es ist besser, wenn wir uns für eine Weile in der Stadt verstecken und
überlegen, wie wir uns verkleiden können.«
Ich stimmte ihr zu. Eine schwangere
Dame – dazu so auffallend wie meine Amalia – würde in den Gasthöfen der
umliegenden Städte schwer zu verbergen sein, und sie konnte nicht in einer
Kutsche schlafen. Wenn wir versuchten, aus der Stadt zu fliehen, würde ich mich
innerhalb eines einzigen Tages in der Gewalt des Zerberus befinden.
Ich verriet ihr, dass ich ein Versteck
für uns kannte.
»Es ist ziemlich klein«, sagte
ich, als unsere Kutsche die Müllhaufen auf der Burggasse in Spittelberg umfuhr.
»Und die Luft kann etwas stickig sein. Es ist auch laut. Aber die Wände sind
dick. Und die Möbel sind weich, wenn auch abgenutzt.«
»Ach Moses«, sagte sie. »Ich habe dir
doch gesagt, es ist mir einerlei.«
»Es wird nicht das sein, was du
gewöhnt bist«, sagte ich und dachte an die Reichtümer des Palais Riecher und
des Hauses Duft.
»Was ich gewöhnt bin, ist eine Hexe,
die mich Tag und Nacht bewacht. Was ich gewöhnt bin, ist ein Ehemann, der
keinen eigenen Willen hat. Ich bin schwanger, aber der einzige Grund dafür ist,
dass sie es befohlen hat.«
Die Kutsche fuhr holpernd über einen
gelockerten Kopfstein oder vielleicht sogar einen toten Hund. Als der Kutscher
sagte, er würde nicht weiterfahren, bot ich ihm den doppelten Lohn an. Das
half: Er brachte uns an die Tür des Kaffeehauses.
»Hier ist es«, sagte ich und schämte
mich, weil mir das Gebäude plötzlich so klein erschien. Es sah aus, als gehörte
es zur Kulisse von Tassos Bühne. Amalia zog sich die Kapuze ihres Umhangs tief
in die Stirn. Ich hielt die Schatulle mit der einen Hand, als ich ihr mit der
anderen aus der Kutsche half. Sie war stark, aber ihr Rücken schmerzte, weil
sie viele Stunden auf dem harten Sitz in der Loge und in der Kutsche gesessen
hatte, und ihr Hinken war viel stärker ausgeprägt, als wir über die holprige
Straße zur Tür gingen.
Inzwischen war es nach Mitternacht –
in diesem Viertel die Stunde dunkler Geschäfte – und die Passanten starrten zu
Boden, anstatt uns ins Gesicht zu sehen. Das Kaffeehaus war fast leer. Vier
Männer, gerötet vom Trinken, schlürften ihre bittere, dunkle Medizin und
starrten Amalia an, als wäre sie eine fantastische, vom Zaubertrank geschaffene
Vision. Der gewissenhafte Herr Kost betrachtete seine Schuhe, wohl wissend,
dass er nicht Zeuge werden sollte, wie diese feine Dame sein Etablissement
betrat.
Wir stiegen die Stufen zu den Räumen
meiner Freunde hinauf. Remus sprang von seinem Sessel auf. Nicolai mühte sich
auf die Füße. Ich strahlte sie an, und Erleichterung machte sich auf ihren
Gesichtern breit.
»Gott sei gepriesen«, sagte Remus wie
eine besorgte Mutter. Er faltete die Hände vor der Brust, als ich im Türrahmen
erschien, aber als Amalia hinter mir eintrat und ihre Kapuze zurückzog, schwand
sein Lächeln und er nickte nervös zur Begrüßung.
Aber Nicolais Lächeln wurde nur noch
herzlicher, als seine schwachen Augen einen weiblichen Schatten ausmachten.
»Willkommen im Liebestempel!«, rief er. Remus’ Gesicht wurde noch eine Spur
blasser, während meines vor Scham errötete. Amalia jedoch lächelte. Dann
musterte sie Remus.
»Mein Gott!«, sagte sie. »Das ist der
wölfische Mönch!«
»Grüezi, Fräulein Duft.« Er verbeugte
sich.
»Eigentlich nennt man mich jetzt Frau
Riecher«, sagte sie. »Aber heute Nacht möchte ich wieder eine Duft sein.«
»In diesem Haus könnt Ihr jeden Namen
tragen, den Ihr wollt«,
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